Minimalismus ist in Mode. Wie reagieren Sie, wenn Sie zu Weihnachten die dritte Designer-Zitronenpresse bekommen? So manche sagt dann: Zu viel, zu viel! Bücher, Geschirr, Kleider, alles in 10facher Ausfertigung, ich bekomme keine Luft mehr!
Daher liegt Minimalismus im Trend, in besonders radikaler Form aber unter jungen Japanern.
Schon viele Jahrhunderte lang steht Zen für radikale Vereinfachung. Keine Schnirksel Schnörksel, jede Form funktionell und ästhetisch auf den einfachsten, elegantesten Nenner gebracht. Leere Räume. Alles was nicht gebraucht wird, wird verborgen und in doppelten Wänden, Schränken, Lager verstaut.
Inzwischen, das erfährt jeder Japanreisende, haben sich viele japanische Wohnungen aufgrund des beengten Platzes in angeräumte Abstellkammern entwickelt. Manche jungen Leute haben in ihrem einzigen kleinen Raum Computer, Bücherregale, das Surfbrett, das Fahrrad und das Snowboard übereinander gestapelt. Von Leere keine Spur.
Nun greifen junge Japaner die alte Idee wieder auf, die Wohnung radikal zu entmisten. Sie leben in fast leeren Wohnungen. Sie lesen Bücher nur mehr digital, verwenden nur einen einzigen Topf und eine Herdplatte zum Kochen und leihen sich alles, was sie brauchen, aus. Auch im Kleiderstil kommen sie mit einigen Hemden und Hosen aus: Elisa Sasaki z.B. limitierte ihren Kleiderbestand radikal, nachdem sie ein Jahr im Ausland gelebt hatte und mit einer kleinen Reisetasche auskommen musste: „Wenn Du etwas besitzt, hast du auch die Verantwortung dafür. Daher ist es wichtig, die Dinge die Du besitzen willst, sorgfältig auszuwählen. Dann hast Du Kapazitäten für die Dinge, die Dir wirklich wichtig sind“. Ein anderer junger Japaner, Katsuya Toyota, lebt in seiner 22 m2 Wohnung nur mit einem Tisch und einer Matratze. Er sagt: „Ich wurde Minimalist, damit ich nur mehr Dinge besitze, die ich liebe.“ (Bilder dazu http://www.bbc.com/news/in-pictures-36574697).
Hinter dem Minimalismus der jungen Japaner steht häufig gar nicht so sehr die Idee des Ausmistens, sondern die Sehnsucht danach, den Wert der Dinge wieder zu spüren und zu schätzen. Minimalismus bedeutet für sie, nur mit schönen Dingen einfach zu leben, eine Idee des ästhetisierten Zen. Ein zweiter Aspekt ist, dass Dinge nicht mehr so viel Aufmerksamkeit benötigen. Je mehr man besitzt, desto mehr Arbeit geht drauf, den Besitz zu verwalten, zu verbessern, zu reinigen. Je weniger man besitzt, desto mehr Zeit wird frei, um sich Freunden zu widmen und Erfahrungen zu machen. Vom verdichteten, „sicheren“ Materiellen verschiebt sich das Leben ins Prozesshafte, Unsichere, aber auch Lebendige. Was benötigt wird, wird „geshared“, ausgeliehen oder nur kurze Zeit verwendet und wieder verkauft. Das ist auch unter jungen Europäern häufig so.
Einer dieser jungen Japaner ging sogar so weit, seinen Kühlschrank herzuschenken. Als dann der Sommer kam, musste er erkennen, dass ein Kühlschrank doch ganz praktisch ist. Da frage ich mich doch, wie viel Minimalismus ist sinnvoll?
Vor einigen Tage hörte ich ein Kabarettprogramm. Der Kabarettist sagte: „Vor unserer Türe stehen die „hungrigen“ Inder und Chinesen, die etwas im Leben erreichen wollen. Zu denen sage ich: „Was wollt Ihr denn? Ich habe eh genug“.
Ein Satz, bei dem ich zwei Mal hinhorchen musste, der es aber in sich hat. Wir fühlen uns zum Minimalismus hingezogen, weil wir so viel haben, andere sehen das sicherlich nicht gleich.
Ich sehe da Parallelen in der Entwicklung der japanischen Teezeremonie, wie wir sie heute kennen.
Sie wird oft gepriesen ob ihrer „einfachen“ Ästhetik. Nur das Wesentliche ist in einem Teeraum vorhanden. Einfache Gegenstände, diese aber von höchster Eleganz, werden verwendet. Eine einfache Schale aus grober Keramik, ein Holzkästchen aus Lack ohne Verzierung, für diese Einfachheit steht die minimalistische Ästhetik.
Bevor der „Minimalismus“ in der Teezeremonie Einzug hielt, sah es jedoch ganz anders aus: Shogun Toyotomi Hideyoshi liebte großen Prunk. Er ließ sich einen Teeraum bauen, wo alle Gegenstände aus Gold hergestellt waren – ausgenommen dem Teebesen aus Bambus, einem weissen Tuch und einem hölzernen Wasserschöpfer. Die Wände waren vergoldet und die Papierschiebewände nicht mit weissem Papier, sondern mit einem roten Teppich bespannt. Genau zu dieser Zeit trat der Reformer Sen no Rikyu auf. Er führte den schmucklosen Teeraum ein und entkleidete die Utensilien allen zusätzlichen Schmucks. Er schuf die radikal minimalistische Teezeremonie, wie wir sie heute kennen.
Ungefähr an so einem Punkt stehen wir heute auch. Jene Menschen, die zu viel haben, träumen vom einfachen Leben. Doch wirklich tauschen möchte wohl niemand mit einer chinesischen Fabriksarbeiterin, die in einer Einzimmerwohnung nur mit dem Nötigsten lebt .
Daher ist meine heutige Erkenntnis: Die Sehnsucht nach Minimalismus wächst nur auf dem Boden des Überflusses.
es gibt viele Internetseiten über Minimalismus, unter anderem auch diese http://www.einfachbewusst.de/
Danke für den Hinweis!
FW
Überfluss und Überdruss!genau…
Ich seh das genau wie du: es ist ein Luxus sich nach Minimalismus zu sehnen. Und trotzdem, der Gedanke, nur das zu besitzen, was man liebt, für das man die Verantwortung übernimmt, den finde ich richtiggehend betörend schön.
„Betörend“ welch ungewöhnliches Wort! Danke!
Ich arbeite immer noch täglich daran zu entscheiden, für welche Dinge ich Verantwortung übernehmen will. Gemeinsam mit anderen – mit Dir z.B. – dem Minimalismus im Leben nachzuspüren ist eine „betörende“ Vorstellung :-).
Ja, es ist mir bewusst, welch großes Privileg es ist, keine chinesische Textilarbeiterin zu sein, sondern hier im Westen in einem der reichsten Länder dieser Erde geboren zu sein und zu leben. Ich muss nicht kämpfen für Nahrung, eine einfache Unterkunft oder medizinische Versorgung. Ich lebe in einer Gesellschaft, die ihr Glück in materiellem Überfluss sucht und sich der Illusion unbegrenzten Wachstums hingibt. Immer mehr Menschen hier spüren, dass dies nicht alles ist und sich Fragen nach einem tieferen Sinn des Seins geradezu aufdrängen. Zugleich ermöglicht gerade diese Gesellschaft, Fragen nach dem tieferen Sinn zu stellen und ihnen nachzugehen. Müsste ich sieben Tage die Woche in 12-Stunden-Schichten in einer Fabrik arbeiten und dann noch meine Familie versorgen, bliebe dafür gar kein Raum.
Also folge ich meiner Sehnsucht nach dem tieferen Sinn und gehe den Zen-Weg. Minimalismus oder sanfter formuliert die Vereinfachung des Lebens ist dabei für mich kein Trend, sondern sie ergibt sich. Natürlich werde auch ich von Werbung beeinflusst, die wunderbar anerzogene Muster triggert. Schon ist er da, der Wunsch nach dem neuesten Smartphone, noch mehr schicken Schuhen, Hemden, Anzügen, einem neuen Auto etc. . Aber in die Stille des Zazen brüllt auch die Frage hinein „Wer braucht das alles? Und wozu? Wer bist Du wirklich? Bist Du ein Hemd? Ein Smartphone? Ein Auto?“
Die Antworten haben mein Leben verändert. Beispiele:
Ich lebe längst nicht so gezwungen minimalistisch wie die chinesische Textilarbeiterin oder wie junge Japaner. Aber mein Kleiderschrank ist deutlich leerer geworden. So habe ich für die Arbeit zwei Anzüge, also einen zum Wechseln, wenn der andere in die Reinigung muss, und für jeden Tag ein frisches Hemd, weil ich nicht täglich waschen möchte. Das ist noch kein Samu-Anzug, würde auch seltsam wirken am Arbeitsplatz, aber es geht in die Richtung. Und meine Freizeitkleidung ist ähnlich reduziert. Dafür schaue ich, wie die Kleidung produziert wird.
Ich definiere mich nicht mehr über Äußerlichkeiten, das neueste Smartphone oder ein Auto – und das, wo ich als Kind schon in Autosalons gepilgert bin, um Autos aller Art zu bewundern, Probe zu sitzen, zu träumen, ich wäre erwachsen und hätte ein solches Auto, Prospekte zu sammeln wie begehrte Trophäen.
Minimalismus kann also vieles sein: echte Befreiung, eine hohle Mode (die wieder einengend ist) oder existenzielle Notwendigkeit.
Danke für Deinen Kommentar. Ich beobachte an mir ebenfalls seit Jahren, dass ich Dinge weggebe und reduziere. Du beschreibst sehr gut, wie sich dieser Wunsch von innen her aus der Zen-Praxis entwickelt. Minimalismus kann vieles sein. Bleiben wir ihm auf der Spur!
Sehr interessanter Post! Dankeschön für das teilen.