Zazen im Hochhaus

Gestern war es so weit. Vor einigen Wochen war ich Zen-Meister Sasaki Genso in Österreich begegnet. Als ich ihm erzählte, dass ich bald in Tokyo sein würde,  lud er mich spontan ein, in Tokyo an einer Meditationssitzung teilzunehmen.

Sumitomo Hochhaus

Sumitomo Hochhaus

Die Adresse, zu der ich und mein Partner Paul hinbestellt waren, war nicht ein alter Tempelbezirk, sondern ausgerechnet West Shinjuku, das „Manhattan“ von Tokyo –Wolkenkratzer wohin man schaut. Im Sumitomo Hochhaus mit seinen 52 Stockwerken ist das Asahi Culture Center untergebracht, ein populärer Ort der Erwachsenenbildung, wo vom Bildhauern über Ballett bis zum Koto-Spielen (Koto = liegendes Saiteninstrument) hunderte Kurse angeboten werden. Und eben auch: ein Kurs über das Hekiganroku, dem „Bericht von der blauen Felswand“, abgehalten von Sasaki Genso Roshi. Ein Kurs von sechs Einheiten zu 18.000 ¥en, also ca. 150 €.

Als mir Sasaki Roshi in Österreich von seinem Kurs erzählt hatte, hatte ich mir einen Hörsaal vorgestellt, in dem 100 Leute sitzen und seiner Vorlesung über das Hekiganroku (= bedeutende Koan-Sammlung) lauschen würden. Nein, so war es nicht, sondern es war viel kleiner. Wir gingen an einer Reihe von kleinen Räumen vorbei und meldeten uns beim Empfang. Kaum hatte ich meinen Namen gesagt, sprang  schon Sasaki Roshi aus einem Hinterzimmer hervor und kam mir mit ausgebreiteten Armen und breitem Lachen entgegen.

Sasaki Roshi beim Einläuten

Sasaki Roshi beim Einläuten

Er führte uns in einen kleinen Raum, der mit Tatami ausgelegt war. Shoji-Papierwände und Holzbalken rundherum – das Gefühl eines kleinen Tempels war perfekt. Wir bekamen Ehrenplätze zugewiesen, genau gegenüber dem Roshi an der Stirnseite. Die Anwesenden, acht Teilnehmer, waren offensichtlich alt „Eingesessene“, die meisten schon gut über 60 Jahre jung. Eine „Schülerin“, weit über 80 Jahre, sehr gebildet, praktiziert schon seit 50 Jahren Zen und übt schon 30 Jahre lang mit Sasaki Roshi. Die Sitzung begann mit Rezitation (Hannyashingyo). Anschliessend eine Stunde Zaren – selbstverständlich nicht auf Bänckchen sondern auf traditionellen Zafus – und danach eine Stunde Teisho (Lehrrede) über den Fall 34 des Hekiganroku, auf japanisch.

Schnelles Aufräumen

Schnelles Aufräumen

Kaum waren wir mit der Zen-Sitzung fertig, ging es ruck zuck ans Umbauen. Die Kissen wurden hastig weggeräumt, ein Arbeiter mit weissen Handschuhen hob mit geübtem Ruck die Shoji Papierwände aus den Fugen, sodass die Schülerinnen des nächsten Koto-Kurses genug Licht  und mehr Platz zur Verfügung haben. Nach fünf Minuten war der Raum des Zen-Feelings entkleidet.

Small talk after long silence

Small talk after long silence

Die Zazen-Teilnehmer luden uns nach dem gemeinsamen Aufräumen freundlich ein, mit ihnen noch einen Kaffee trinken  zu gehen. Wir plauderten und lachten viel, Sasaki Roshi ist ein ungewöhnlicher und lustiger Zen-Meister. Wir redeten japanisch, deutsch, englisch und französisch durcheinander – jeder, der am Tisch sass, hatte eine andere Sprach-Vorliebe. Hier im Bild das Gespräch mit der 80jährigen auf französojapanisch, Sasaki Roshi gab seine Kommentare auf Deutsch dazu. Zazen im Hochhaus, eine sehr schöne, ungewöhnliche Erfahrung.

Ein wandernder Zen-Meister

Wandermönch

Wander-Meister

Zen-Meister sind gewöhnlich sesshaft, ob in Japan, in den USA oder in Europa. Meist stehen sie in einem Kloster vor (als Roshi) oder einem Tempel (als Osho). Sie sind fast immer an einen Ort gebunden. Sie bilden Mönche aus, lehren Zen-Praktizierende und gelegentlich fahren sie woanders hin, um ein Sesshin abzuhalten.

Heute berichte ich von einem zurückgezogen japanischen Mönch, der keinen festen Wohnsitz hat, sondern in Japan dort und da lebt. Eine befreundete Japanerin hatte mir von ihm erzählt. Er ist im Westen unbekannt und ist doch einer der großen, versteckten Zen Meister in Japan. Ich habe im japanischen Internet eine kurze Autobiographie von ihm gefunden und gebe sie hier – übersetzt – wieder.

„Mein Vater starb während des Krieges und so wurde ich nur von meiner Mutter großgezogen. Wir hatten nie Geld, daher musste ich mir mein Geld als Student selbst verdienen. Ich jobbte als Bergführer und Lastenträger, sozusagen , als Sherpa. Zum Anziehen hatte ich damals nur meine Studentenuniform. Also trug ich  das Gepäck am Rücken der Uniform auf die Berge. Mein Körper wurde dadurch stark und widerstandsfähig. Ich hatte das Studienfach Physik belegt und es war auch sehr interessant. Doch was mich damals eigentlich interessierte, war: Was ist das wahre Leben? Diese Frage beschäftigte mich Tag und Nacht. Ich habe zu jener Zeit nicht ein einziges Mal daran gedacht, wie ich in Zukunft meinen Lebenunterhalt bestreiten würde.

Ich lernte Zen in meinem zweiten Studienjahr kennen. Einmal, als ich meditierte, wurde alles völlig klar und rein. Es war eine ganz stille Welt. Ich fühlte, als ob alles Leben, alles Leiden und alle Schmerzen meine wären. Es war ein Gefühl, als ob ich vollkommen im  „Leben“ baden würde.

Dann bekam ich die berühmte und schwierige  Schrift „Hekiganroku“ in die Hand. „Oh, wie interessant, wie interessant“, dachte ich. Langsam begann ich zu verstehen: „Ach so ist das im Zen!“ Als ich dann später Sawaki Roshi traf,  sagte er mir: „Das ist die Welt des kleinen Satori“.

Das wahre Satori, so erfuhr ich, ist anders. So wie das vollkommen klare Wasser des Teichs das Licht des Mondes glitzernd widerspiegelt, so entsteht im Erwachten ein lebendiges Licht, das sein Denken und Handeln gebiert. Das ist das Grosse Satori. So hat es Meister Dogen beschrieben und so hat es mich mein Zen Lehrer,  Kodo Sawaki, gelehrt. Zu jener Zeit hielt Kodo Sawaki in Kyoto ein Sesshin ab. In mir entstand der Wunsch, den wahren Buddhaweg vollkommen zu erforschen. Und so verliess ich die Universität Nagoya und schrieb mich an der Universität Kyoto für den Masterkurs in Quantenphysik ein, um in der Nähe von Kodo Sawaki zu sein. Ich studierte unter Professor Yukawa Hideki (Anm.: er erhielt 1949 für seine Mesonenforschungen als erster Japaner den Nobelpreis ). Immer wieder dachte ich damals: „Forschen kann ich immer noch. Davor muss ich das Problem von Leben und Tod  lösen. Deshalb praktizierte ich mit Haut und Haaren Zazen. Wo immer Sawaki Roshi hinging, ich war mit ihm. Es war mir nichts zu mühsam, ich dachte nicht an Schlaf. Ich warf mich nur in meine Zen-Praxis.

Zu dieser meiner Studentenzeit suchte ich mir einen Tempel in den Bergen und bat, darin wohnen zu dürfen. Ich schrieb dort meine Abschlussarbeit und lebte dort ein wunderbares Zazen Leben. Ich lebte nur von Vollkornreis und ein paar Rettichblättern, die mir ein Bauer überließ. Das tat meinem Körper sehr gut. Ich war mit diesem einfachen Essen zufrieden und fühlte mich sehr stark. Heute esse ich noch genauso.

Meine Mutter hatte sich immer gewünscht, dass ich Universitätsprofessor werde, ich wurde aber noch in meiner Studentenzeit Mönch. Seither sind schon ungefähr 50 Jahre vergangen.

Ich gehe jeden Tag um 9 Uhr am Abend schlafen und stehe um 2 Uhr früh auf und übe Zazen. Ich habe kein Zuhause, ich habe keinen Tempel. Ich besitze nichts, nur einen Rucksack und den nehme ich überallhin mit. Wo immer ich bin, ist mein Übungsplatz. Wo immer ich hingehe, wo immer ich mich aufhalte, bin ich dankbar, dort zu sein.“

Es gibt in der Zen-Geschichte viele Beispiele von Mönchen, die herumgezogen sind. Letztlich haben sich die meisten doch entschlossen –  wenn auch erst gegen Ende des Lebens –  in einem Tempel oder Kloster zu wirken. Wird dieser wandernde Zen-Meister wohl auch einmal sesshaft werden und Schüler haben? Oder hat er sie schon, weil wir seine Geschichte lesen?