Was ist ein (Zen-) Meister?

Hat ein Hund die Zen-Meisterschaft?

Wuff!

Immer öfter bezeichnen mich Menschen als Zen-Meisterin. Kürzlich stand es in einem Magazin, auf Videos wurde ich so genannt und mündlich sowieso.  Besonders interessant fand ich, dass mich jemand „meine Zen-Meisterin“ nannte, so etwa wie „meine Personal Trainerin“. So als ob es heute dazugehörte, „seine Zen-Meisterin“ in der Nähe zu haben.

Ich bin keine Zen-Meisterin.

Doch woher kommt diese Bezeichnung?

Im japanischen Zen gibt es die Bezeichnung „Zen-Meister“ nicht. Es gibt Funktionsbezeichnungen wie z.B. Roshi oder Osho (Tempelvorsteher). Viele Roshis nennen sich aus Bescheidenheit Osho.

Im bekannten Koan Nr.1 der Sammlung Mumonkan heisst es: „Ein Mönch fragt Joshu: ‚Hat ein Hund Buddhanatur?'“ (Joshu osho, chinami ni so tou, Kusu ni kaette bussho ari ya?)… Dort ist Joshu nicht Zen-Meister, sondern Osho, so wie alle „Zen-Meister“ in den Koan-Sammlungen. Nur Bodhidharma heisst Daishi, „Grosser Lehrer“.

Trotzdem sprechen wir im Deutschen und Englischen von Zen-Meistern. Wussten Sie, dass das eine recht junge Bezeichnung ist? Im englischen Wikipedia heisst es: „Zen master is a somewhat vague English term that arose in the first half of the 20th century…“ Die Bezeichnung ist also vage und noch gar nicht alt.

Was ist ein Meister im Deutschen? Es gibt in vielen Berufen Meister, es gibt Malermeister, Kapellmeister, Zeremonienmeister, Kerkermeister und  Bürgermeister. Schon im Althochdeutschen gab es den „Meistar“, der mit dem lateinischen Magister zusammenhängt. Damit wurden leitende Handwerker bezeichnet.

Im allgemeinen bezeichnet man laut Verein für deutsche Sprache jemanden, dem die Aufsicht oder die Leitung von etwas betraut ist. Die Art des Anvertrauten wird durch Zusammensetzung wiedergegeben (vgl. Kerkermeister, Stallmeister).

Vom Gebrauch dieser Bezeichnungen zu schließen, wäre ein Zen-Meister dann jemand, der einem Zen-Zentrum oder Zen-Kloster vorsteht.  Ein Lehrer oder Leiter.

Doch schwingt noch ein zweiter Aspekt mit. Es ist das Meistern und die Meisterschaft und dass jemand „ausgelernt“ hat.  Ja, es gibt Curricula und äussere Faktoren, nach denen die Ausbildung auch im Zen beurteilt werden kann. Doch nur um die Ausbildung geht es nicht. Ein Zen-Meister  ist nach diesem zweiten Aspekt jemand, der eine tiefe Einsicht gewonnen hat und diese auch Tag für Tag in seinem Leben bezeugen kann.  Viele Menschen stellen sich vor, dass er unfehlbar und vollkommen sei, ein abgehobenes Bild, dem kaum ein lebender Mensch genügen kann.

Jemand hat einmal Zen mit dem Ozean verglichen. Je mehr man in ihn hineingeht, desto mehr erfasst man seine unendliche Weite und Tiefe.

Vor diese Aussage frage ich Sie: Ist es möglich, Zen zu meistern? Und: „Hat ein Hund Zen-Meisterschaft?“

Wuff!

 

Anhaften – auch an Werten?

Jetzt ist es wieder passiert. Und es hat mich zum Nachdenken gebracht. Aber alles der Reihe nach. Vor einiger Zeit hatten wir im Zen-Zentrum eine spezielle Tee-Zeremonie mit Matcha-Tee, dem grünen Pulvertee.  Ich hatte einen besonders guten Matcha-Tee, Süßigkeiten aus Japan … Weiterlesen

Japanreise à la Serendip

Hakuins Tempel

Hakuins Tempel

Dieses Jahr fielen Osterferien und Kirschblüte in den gleichen Zeitraum. Daher war die Planung bei unserer Japan-Reise besonders wichtig. Die Hotels waren schon ausverkauft, die Flüge teuer und die Angst groß, dass wir vor lauter Touristen – ausländischen und japanischen –  manche Plätze gar nicht geniessen werden können.

Es kam alles anders. Japanische Freunde zeigten uns versteckte Kostbarkeiten, bekochten uns mit exquisiten Mönchsspeisen und  führten uns alten Japan-Hasen zu den schönsten blühenden und einsamen Kirschbäumenhainen.

Ich hatte die Reise so geplant, dass wir auf den Spuren wichtiger Zen-Mönche reisten. Zum Beispiel wollte ich unbedingt den Tempel von Hakuin sehen. Hakuin Ekaku (1686-1768) war DER Reformer des Zen. Ohne ihn wäre das Rinzai-Zen ausgestorben oder zumindestens unbedeutend geworden. Also dachte ich, es wäre ein Tempel, wie es üblich ist: mit Eintritt, Führungen, eventuell Audio-Guides. Wir kamen dorthin, es war nichts dort. Ein verlassener Tempel, kein Empfang mit Ticketverkauf, nur die Tempelgebäude und Kies. Da entdeckte ich einen alten Mann in einer Ecke. Ich redete ihn an: Guten Tag, wir kommen aus Österreich und praktizieren Zen. das ist doch der Tempel Hakuins, oder?“ Der alte Mann rief nach hinten: „Hey du, erzähle ihnen doch etwas!“ Hervor kam ein junger Mönch mit wachem, intelligenten Gesicht. In diesem Moment dankte ich dem Himmel, dass ich mich auf japanisch verständigen konnte. Denn so konnte ich mich frei mit ihm unterhalten und ihm viele Fragen stellen. Er war Experte für Hakuin. Er führte uns zu jedem Stein und erzählte dazu. Dabei entwarf er ein lebendiges Bild der damaligen Zeit. Wir sahen förmlich die 40 Mönche herumlaufen und wir spürten ihre Ernsthaftigkeit. Wir konnten die schwierigen Zeiten nachvollziehen, als Hakuin sich darum sorgen musste, die Mönche zu verköstigen. Es war eine Zeit der Hungersnöte und viele waren in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Hakuin malte  viele Kalligraphien und Tuschebilder, damit er im Tausch dafür Essen für seine Mönche bekam.

Das Grab Hakuins

Das Grab Hakuins

Zendo

Zendo

Der Mönch zeigte uns das Grab Hakuins. Es war nicht das größte, sondern recht unscheinbar.

Zu guter Letzt setzten wir uns noch in die Zen-Halle und meditierten. Es war ein tiefes Erlebnis.

Der Mönch betonte während seiner Erzählungen  immer wieder, es gäbe an diesem Ort nichts zu sehen. Oberflächlich betrachtet hatte er wohl recht. Ich war jedoch inspiriert und aufgeregt, auf jenem Boden zu stehen, wo das moderne ernsthafte Zen seinen Ausgang genommen hat. Dieses Gefühl musste der Mönch wohl gespürt haben, denn am Schluss meinte er: „Es gibt hier nichts Materielles zu sehen, nur der Geist Hakuins ist hier lebendig.“ Genauso empfanden wir das auch.

Wie in der Geschichte von Serendip waren wir auf der Suche nach etwas gewesen und haben etwas anderes, viel Wertvolleres gefunden. Und genauso erlebten wir jeden Tag unserer Japan-Reise. Jeder Tag hat ein überraschendes Tor geöffnet.  Im Laufe der Reise wurden wir schon dreist und haben uns im Vertrauen auf den Serendip-Effekt jeden Morgen gedacht: „Wir müssen nur dorthin gehen und etwas Schönes wird uns passieren“. Ein wunderbares Gefühl, Neugier auf Unbekanntes und trotzdem das Gefühl des Aufgehobenseins zugleich. Dieses Gefühl der inspirierten Leichtigkeit trug uns durch die ganze Reise.

Mit tiefer Dankbarkeit denke ich an alle die Menschen, die uns dieses Erlebnis ermöglicht haben. Danke!

Zazen im Hochhaus

Gestern war es so weit. Vor einigen Wochen war ich Zen-Meister Sasaki Genso in Österreich begegnet. Als ich ihm erzählte, dass ich bald in Tokyo sein würde,  lud er mich spontan ein, in Tokyo an einer Meditationssitzung teilzunehmen.

Sumitomo Hochhaus

Sumitomo Hochhaus

Die Adresse, zu der ich und mein Partner Paul hinbestellt waren, war nicht ein alter Tempelbezirk, sondern ausgerechnet West Shinjuku, das „Manhattan“ von Tokyo –Wolkenkratzer wohin man schaut. Im Sumitomo Hochhaus mit seinen 52 Stockwerken ist das Asahi Culture Center untergebracht, ein populärer Ort der Erwachsenenbildung, wo vom Bildhauern über Ballett bis zum Koto-Spielen (Koto = liegendes Saiteninstrument) hunderte Kurse angeboten werden. Und eben auch: ein Kurs über das Hekiganroku, dem „Bericht von der blauen Felswand“, abgehalten von Sasaki Genso Roshi. Ein Kurs von sechs Einheiten zu 18.000 ¥en, also ca. 150 €.

Als mir Sasaki Roshi in Österreich von seinem Kurs erzählt hatte, hatte ich mir einen Hörsaal vorgestellt, in dem 100 Leute sitzen und seiner Vorlesung über das Hekiganroku (= bedeutende Koan-Sammlung) lauschen würden. Nein, so war es nicht, sondern es war viel kleiner. Wir gingen an einer Reihe von kleinen Räumen vorbei und meldeten uns beim Empfang. Kaum hatte ich meinen Namen gesagt, sprang  schon Sasaki Roshi aus einem Hinterzimmer hervor und kam mir mit ausgebreiteten Armen und breitem Lachen entgegen.

Sasaki Roshi beim Einläuten

Sasaki Roshi beim Einläuten

Er führte uns in einen kleinen Raum, der mit Tatami ausgelegt war. Shoji-Papierwände und Holzbalken rundherum – das Gefühl eines kleinen Tempels war perfekt. Wir bekamen Ehrenplätze zugewiesen, genau gegenüber dem Roshi an der Stirnseite. Die Anwesenden, acht Teilnehmer, waren offensichtlich alt „Eingesessene“, die meisten schon gut über 60 Jahre jung. Eine „Schülerin“, weit über 80 Jahre, sehr gebildet, praktiziert schon seit 50 Jahren Zen und übt schon 30 Jahre lang mit Sasaki Roshi. Die Sitzung begann mit Rezitation (Hannyashingyo). Anschliessend eine Stunde Zaren – selbstverständlich nicht auf Bänckchen sondern auf traditionellen Zafus – und danach eine Stunde Teisho (Lehrrede) über den Fall 34 des Hekiganroku, auf japanisch.

Schnelles Aufräumen

Schnelles Aufräumen

Kaum waren wir mit der Zen-Sitzung fertig, ging es ruck zuck ans Umbauen. Die Kissen wurden hastig weggeräumt, ein Arbeiter mit weissen Handschuhen hob mit geübtem Ruck die Shoji Papierwände aus den Fugen, sodass die Schülerinnen des nächsten Koto-Kurses genug Licht  und mehr Platz zur Verfügung haben. Nach fünf Minuten war der Raum des Zen-Feelings entkleidet.

Small talk after long silence

Small talk after long silence

Die Zazen-Teilnehmer luden uns nach dem gemeinsamen Aufräumen freundlich ein, mit ihnen noch einen Kaffee trinken  zu gehen. Wir plauderten und lachten viel, Sasaki Roshi ist ein ungewöhnlicher und lustiger Zen-Meister. Wir redeten japanisch, deutsch, englisch und französisch durcheinander – jeder, der am Tisch sass, hatte eine andere Sprach-Vorliebe. Hier im Bild das Gespräch mit der 80jährigen auf französojapanisch, Sasaki Roshi gab seine Kommentare auf Deutsch dazu. Zazen im Hochhaus, eine sehr schöne, ungewöhnliche Erfahrung.

Ein wandernder Zen-Meister

Wandermönch

Wander-Meister

Zen-Meister sind gewöhnlich sesshaft, ob in Japan, in den USA oder in Europa. Meist stehen sie in einem Kloster vor (als Roshi) oder einem Tempel (als Osho). Sie sind fast immer an einen Ort gebunden. Sie bilden Mönche aus, lehren Zen-Praktizierende und gelegentlich fahren sie woanders hin, um ein Sesshin abzuhalten.

Heute berichte ich von einem zurückgezogen japanischen Mönch, der keinen festen Wohnsitz hat, sondern in Japan dort und da lebt. Eine befreundete Japanerin hatte mir von ihm erzählt. Er ist im Westen unbekannt und ist doch einer der großen, versteckten Zen Meister in Japan. Ich habe im japanischen Internet eine kurze Autobiographie von ihm gefunden und gebe sie hier – übersetzt – wieder.

„Mein Vater starb während des Krieges und so wurde ich nur von meiner Mutter großgezogen. Wir hatten nie Geld, daher musste ich mir mein Geld als Student selbst verdienen. Ich jobbte als Bergführer und Lastenträger, sozusagen , als Sherpa. Zum Anziehen hatte ich damals nur meine Studentenuniform. Also trug ich  das Gepäck am Rücken der Uniform auf die Berge. Mein Körper wurde dadurch stark und widerstandsfähig. Ich hatte das Studienfach Physik belegt und es war auch sehr interessant. Doch was mich damals eigentlich interessierte, war: Was ist das wahre Leben? Diese Frage beschäftigte mich Tag und Nacht. Ich habe zu jener Zeit nicht ein einziges Mal daran gedacht, wie ich in Zukunft meinen Lebenunterhalt bestreiten würde.

Ich lernte Zen in meinem zweiten Studienjahr kennen. Einmal, als ich meditierte, wurde alles völlig klar und rein. Es war eine ganz stille Welt. Ich fühlte, als ob alles Leben, alles Leiden und alle Schmerzen meine wären. Es war ein Gefühl, als ob ich vollkommen im  „Leben“ baden würde.

Dann bekam ich die berühmte und schwierige  Schrift „Hekiganroku“ in die Hand. „Oh, wie interessant, wie interessant“, dachte ich. Langsam begann ich zu verstehen: „Ach so ist das im Zen!“ Als ich dann später Sawaki Roshi traf,  sagte er mir: „Das ist die Welt des kleinen Satori“.

Das wahre Satori, so erfuhr ich, ist anders. So wie das vollkommen klare Wasser des Teichs das Licht des Mondes glitzernd widerspiegelt, so entsteht im Erwachten ein lebendiges Licht, das sein Denken und Handeln gebiert. Das ist das Grosse Satori. So hat es Meister Dogen beschrieben und so hat es mich mein Zen Lehrer,  Kodo Sawaki, gelehrt. Zu jener Zeit hielt Kodo Sawaki in Kyoto ein Sesshin ab. In mir entstand der Wunsch, den wahren Buddhaweg vollkommen zu erforschen. Und so verliess ich die Universität Nagoya und schrieb mich an der Universität Kyoto für den Masterkurs in Quantenphysik ein, um in der Nähe von Kodo Sawaki zu sein. Ich studierte unter Professor Yukawa Hideki (Anm.: er erhielt 1949 für seine Mesonenforschungen als erster Japaner den Nobelpreis ). Immer wieder dachte ich damals: „Forschen kann ich immer noch. Davor muss ich das Problem von Leben und Tod  lösen. Deshalb praktizierte ich mit Haut und Haaren Zazen. Wo immer Sawaki Roshi hinging, ich war mit ihm. Es war mir nichts zu mühsam, ich dachte nicht an Schlaf. Ich warf mich nur in meine Zen-Praxis.

Zu dieser meiner Studentenzeit suchte ich mir einen Tempel in den Bergen und bat, darin wohnen zu dürfen. Ich schrieb dort meine Abschlussarbeit und lebte dort ein wunderbares Zazen Leben. Ich lebte nur von Vollkornreis und ein paar Rettichblättern, die mir ein Bauer überließ. Das tat meinem Körper sehr gut. Ich war mit diesem einfachen Essen zufrieden und fühlte mich sehr stark. Heute esse ich noch genauso.

Meine Mutter hatte sich immer gewünscht, dass ich Universitätsprofessor werde, ich wurde aber noch in meiner Studentenzeit Mönch. Seither sind schon ungefähr 50 Jahre vergangen.

Ich gehe jeden Tag um 9 Uhr am Abend schlafen und stehe um 2 Uhr früh auf und übe Zazen. Ich habe kein Zuhause, ich habe keinen Tempel. Ich besitze nichts, nur einen Rucksack und den nehme ich überallhin mit. Wo immer ich bin, ist mein Übungsplatz. Wo immer ich hingehe, wo immer ich mich aufhalte, bin ich dankbar, dort zu sein.“

Es gibt in der Zen-Geschichte viele Beispiele von Mönchen, die herumgezogen sind. Letztlich haben sich die meisten doch entschlossen –  wenn auch erst gegen Ende des Lebens –  in einem Tempel oder Kloster zu wirken. Wird dieser wandernde Zen-Meister wohl auch einmal sesshaft werden und Schüler haben? Oder hat er sie schon, weil wir seine Geschichte lesen?

Der Joshu-Reflex: Tun was ansteht

Eines Tages ging ich mit einem Freund im Wienerwald spazieren. Da lag eine weggeworfene Plastikflasche am Weg. Viele Menschen wären einfach weitergegangen. Er hob sie auf und trug sie so lange bei sich, bis er eine Möglichkeit fand, sie zu entsorgen. Er erzählte mir daraufhin, dass er es zu seiner Gewohnheit gemacht hat, herumliegenden Müll aufzuheben. Oft nimmt er zum Beispiel von einem Teich, wo viele Jugendliche „wild“ baden gehen, leere Bierdosen und anderen Mist mit, damit sich am nächsten Tag die Menschen am schönen Badesee erfreuen können.

Das erinnert mich an die bekannte Geschichte des chinesischen Zen-Meisters Joshu Jushin (778-897). Sie geht so:

Wasche Deine Schale!

Wasche Deine Schale aus!

Ein Mönch sagt zu Meister Joshu: „Ich bin neu hier im Kloster. Gebt mir bitte Unterweisung!“ Darauf Joshu: „Hast Du schon gefrühstückt?“ Der Mönch: „Ja, das habe ich“. Joshu: „Dann geh und wasche Deine Schale aus.“ (Quelle: Mumonkan #7)

Joshu war ein Zen Meister, dessen Größe gerade darin lag, unspektakulär in der Welt zu wirken. Ohne große Diskussionen, ohne viel Herumzuphilosophieren tat er das, was gerade ansteht. Joshu steht für mich für:

1. Das Potential dieses Moments zu erfassen – und –

2. Verantwortung für die Situation dieses Moments anzunehmen

Ich bleibe beim obigen Beispiel. Das bedeutet: Auch bei einem schönen Spaziergang nicht wegzuschauen und sich zu denken, „dafür sind die Müllmänner da“.  Es könnte genauso sein, dass ein Blinder nicht alleine die Strasse überqueren kann, oder dass in der U-Bahn jemand angepöbelt wird. Wir sind immer wieder gefordert, das Gesamtbild des Moment wahrzunehmen und danach zu handeln, auch wenn es anfänglich unbequem zu sein scheint.

Haben Sie auch noch von Ihrer Kindheit im Ohr: „Wer hat das angestellt?“ In der Schule oder auch zu Hause ging es oft darum, die Schuldigen herauszufinden, damit diese das Problem wieder beseitigen, ob es ein eingeschlagenes Fenster ist, oder ein Fleck auf dem Teppich. Die Nichtschuldigen freuen sich und schauen zu, wie die Übeltäter bestraft werden oder es wieder wegputzen müssen. Ob diese Erziehungsmassnahme sinnvoll ist, möchte ich hier nicht beurteilen. Es führt jedenfalls dazu, dass wir uns gar nicht betroffen fühlen von Dingen/Situationen, die wir nicht verursacht haben. Wir lassen sie liegen, wir schieben sie anderen zu.

Andererseits gibt es auch viele Menschen, die ein Problem erkennen und sofort etwas tun, um eine Lösung herbeizuführen. Ohne zu jammern und ohne jemandem anderen die Schuld zuzuschieben. Sie übernehmen Verantwortung, egal, ob es nun von ihnen erwartet wird oder nicht, und gleichgültig, wer das Problem verursacht hat. Das nenne ich den Joshu Reflex.

Mich hat die Tat meines Freundes inspiriert, meinen Jogging-Weg zu „adoptieren“. Ich laufe jeden Tag die gleiche Strecke, einen Weg, der auch oft von Spaziergängern begangen wird. Da liegen Bonbonpapiere, Bierdosen, Plastikflaschen herum. Nach Silvester liegen viele Reste von Knallfröschen und Feuerwerk auf den Wiesen verstreut. Ich habe immer ein kleines Plastiksackerl in der Jackentasche und wenn ich etwas sehe, klaube ich es auf und gebe es hinein. Am Schluss wandert alles in eine Mülltonne. Niemand weiss von meiner „Adoption“ (bis jetzt ;-)), trotzdem macht es mir viel Freude, „meinen“ sauberen Weg jeden Tag entlang zu laufen.

Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr die Diskussion aufgreift und andere Beispiele für den Joshu-Reflex beisteuern könntet, ob von Euch oder von anderen Menschen! Klicke einfach unten auf Kommentar und gib uns ein Beispiel!