Jetzt ist es wieder passiert. Und es hat mich zum Nachdenken gebracht. Aber alles der Reihe nach. Vor einiger Zeit hatten wir im Zen-Zentrum eine spezielle Tee-Zeremonie mit Matcha-Tee, dem grünen Pulvertee. Ich hatte einen besonders guten Matcha-Tee, Süßigkeiten aus Japan und Utensilien besorgt. Unter anderen waren kleine Spießchen dabei, mit denen man die Süßigkeiten aufspießt. Wie alles bei der japanischen Teezeremonie sehen sie unscheinbar aus, waren jedoch aus schönem Holz von Hand geschnitzt. Wir hatten sie schon jahrzehntelang in unserer Familie in Verwendung. Zu Ende der Teezeremonie in unserem Zendo wusch jeder seine Schale ab und entsorgte alles übrige im Müll – einschließlich der Spießchen. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt und kam erst viel später auf die Idee, die Spießchen zu suchen. Da waren sie alle weg. Eine einzige Frau hatte die Qualität der Spießchen bemerkt und eines aus dem Müll wieder herausgeholt. Für alle anderen waren sie nichts weiteres als Einweg-Zahnstocher gewesen.
Was lehrt mich das?
Erstens: Wir handeln aufgrund unserer Werte und Prioritäten. Meine Zen-Kollegen ließen nicht alles einfach liegen und stehen und gingen fort. Sie kümmerten sich um das Aufräumen und um die Sauberkeit im Zendo. Sie warfen ihre gebrauchten Spießchen jeder und jede persönlich fort und wuschen ihre Teetassen ab und trockneten sie. Sie wussten nicht, dass die Spießchen für mich einen Wert hatten, dass sie handgemacht waren und quasi ein Familienerbstück.
Zweitens: Ich hatte meine eigene Geschichte mit diesen Dingen. Sie sind jetzt fort und das ist auch ganz gut so. Doch lehrte es mich auch, dass die Dinge nicht nur einen äusseren Wert haben, sondern auch den Wert, den wir ihnen geben. An den Holzspießchen hingen viele Gedanken und Erinnerungen an Mutter und Vater. Und es lehrt mich auch, dass meine Sicht nicht die richtige sein muss. Auch an Werten kann man anhaften. So bin ich dankbar, dass sich alle für das Aufräumen verantwortlich gefühlt haben.
Drittens musste ich an eine Zen-Geschichte denken, die zeigt, dass Zen-Meister und ihre Schüler auch oft nicht die gleiche Meinung hatten.
Der Zen-Meister Gisan Zenrai Zenji (19.Jh.) wollte eines Tages ein Bad nehmen. Das Wasser war zu heiss, deshalb rief er nach seinem assistierenden Mönch Giboku. Giboku schleppte vom Brunnen im Freien zwei Kübel Wasser heran und goss es in das Badewasser bis es die richtige Temperatur hatte. Den Rest schüttete er weg. Gisan brauste auf:“ Was schüttest Du das Wasser einfach so achtlos weg? Du hättest damit Pflanzen giessen und Tiere tränken können. Mit der kleinsten Menge Wasser kann man noch den Garten giessen! Du achtloser Mönch!“
Giboku nahm sich das sehr zu Herzen. Ab diesem Moment behandelte der jeden Tropfen Wassers mit größter Wertschätzung und nannte sich seither „Tekisui“, das heisst „Ein Tropfen“.
Giboku hat etwas gelernt. Doch hatte auch der Zen-Meister etwas gelernt?
Liebe Andrea, Du hast Dir viele Gedanken gemacht. Was ich meinte, war, dass diese Geschichte zwar hier endet, jedoch vielleicht noch weitergegangen ist – wie ja alle Geschichten weiterwirken. Hätte der Zen-Meister seine Abkanzelung und Beurteilung des Mönches noch einmal überdacht? War sie überhaupt nötig? Auch ohne diese hätte der Mönch das Wasser wertzuschätzen gelernt, meine ich. Ich erlebte einmal Ähnliches. In unserem Zen-Zentrum lag eine Karotte. Irgendjemand hatte sie liegen lassen. Sie sah unansehnlich aus und war schon weich geworden. Ein junger Mann kümmerte sich, nahm die Karotte und wollte sie wegwerfen. In mir protestierte alles. Ich bat ihn, sie mir zu geben, und dann kochte ich daraus Gemüsebrühe. Ich spürte in dieser Szene, wie ich ungehalten und ein bisschen entsetzt war. Hätte ich den jungen Mann achtlos nennen dürfen? Er hatte im besten Gewissen gehandelt. Vielleicht ist ihm bewusst geworden, dass Gemüsebrühe kochen besser war als wegwerfen. Vielleicht auch nicht, weil ich zu wenig stark reagiert hatte. In mir wirkte diese Geschichte weiter. Daher – vielleicht hat auch der Zen-Meister etwas gelernt.
und noch beim abschicken kam mir ein anderer gedanke: geht es vielleicht auch hier ’nur‘ darum, alles zu umarmen? den wert, das verhalten des schülers und auch das barsche verhalten des lehrers, was wiederum zu einer veränderung des schülerverhaltens führte? spannend…
liebe fleur,
ich habe länger über diese geschichte nachgedacht. sowohl über die überschrift, als auch über die frage am schluss, was der zen-meister gelernt hat. das anhaften an werten kenne ich auch. gerade bezüglich müll und umweltverschutzung, deren vermeiden für mich ein hohes gut darstellt und es mir total schwer fällt, diesen wert loszulassen (was ich so verstehe, dass ich gleichmütig bin, egal ob dieser wert erfüllt ist oder nicht, also jemand beisp. müll trennt oder nicht, ein weg schmutzig ist oder nicht usw.) ich würde also mal vermuten, da hafte ich an. worum ich mich bemühe, ist meinen unmut möglichst respektvoll auszudrücken oder doch zumimdest höflich. hast du das mit deiner frage gemeint, was der zen-meister gelernt hat? herzliche grüße und danke für die wunderbaren inspirationen auf deinem blog, andrea