Die Reise der Zierkirschen nach Europa

Sakura, Sakura …

Kirschblüte, Kirschblüte
der Frühlingshimmel
So weit das Auge reicht.
Wie Nebel, wie Wolken.
Der Duft und die Farben,
gehen wir, gehen wir
Uns am Anblick erfreuen

„Sakura, sakura…“ ist das bekannteste japanische Lied. Ich habe es einmal auswendig gelernt, weil ich auch Sakura (Kirschblüte) heiße – so wie viele japanische Mädchen, die während der Kirschblüte geboren sind. Deshalb halte ich jedes Jahr im Frühling Ausschau nach den Sakura, die in vielen Gärten rosa blühen. Meistens ist es bei uns die Sorte „Kanzan“, die im nördlichem Klima gut gedeiht. Als ich letzthin um diese Zeit in Kopenhagen war mußte ich natürlich den Friedhof Bispebjerg Kirkegård besuchen und machte dieses Foto von unserem Spaziergang unter einem Meer von rosa Kirschblüten.

Auch in Japan liebte ich das Kirschblütenschauen („Hanami“). Anders als hier blühen in Japan die Kirschbäume aber meistens weiss. Wenn der Wind in die Äste fährt, regnet es wie Schnee herab. Wunderschön! Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, warum die Bäume bei uns rosa blühen, in Japan aber weiss. Dann kam mir ein Buch in die Hände, das die erstaunliche Geschichte der Kirschblüte beschreibt.

Seit dem Jahre 812, als die erste Kirschblütenschau am Hof veranstaltet worden war, also seit mehr als tausend Jahren, schätzt man in Japan die Schönheit der blühenden und fallenden Kirschblüten. Fürsten und wohlhabende Gartenliebhaber übertrafen sich mit ihren Züchtungen. Sie wetteiferten darin, viele verschiedene Kirschblüten im Garten zu haben: weisse, rosa-weisse, rosa, sogar rote Kirschblüten, große und kleine, gefüllte und einfache. Diese blühten auch zu verschiedenen Zeiten, sodass sie sich wochenlang an dem blühenden Schauspiel erfreuen konnten. Über die Jahrhunderte hatten sich so 400 verschiedene Sorten entwickelt. Beinahe wäre jedoch diese Vielfalt der Industrialisierung und Modernisierung zum Opfer gefallen. Wenn nicht, ja wenn nicht, ein verrückter englischer Adeliger gewesen wäre. Und das kam so.

Collingwood Ingram stammte aus einer reichen und exzentrischen britischen Familie und wuchs mit zwölf Albinovögeln und 35 Chin-Hunden auf. Er besuchte nie eine Schule, streifte jedoch viel auf den ausgedehnten Ländereien der Familie umher und beobachtete die Natur. Schon als Kind war er mit allen Vogelstimmen und dem Verhalten der Vögel vertraut, durften diese doch auch am Esstisch sitzen und wurden auf Reisen mitgenommen. Man kann sagen, er war ein Ornithologe. Als er 1902 und dann noch einmal auf Hochzeitsreise 1907 nach Japan kam, bezauberte ihn die Grazie und die Vielfalt der Kirschblüten, die Vögel wurden unwichtiger. Seine Faszination für die Sakura erwachte wieder 1919, denn da erwarb er ein Haus namens „The Grange“. In seinem weitläufigen Garten standen nun zwei große Zierkirschenbäume, damals eine Rarität in Europa. Im Frühjahr 1920 waren die beiden Bäume übersät von seidigen rosa Blüten und warfen einen Teppich zarter, federleichter Blütenblätter auf den Boden. Als er sie blühen sah, der größere mit seinen siebeneinhalb Metern Höhe, dessen Äste sich fast 13 Meter in die Breite spannten, war sein Entschluss gefaßt. So wie die früheren Gartenliebhaber in Japan wollte er so viele Kirschbaumvarietäten in seinem Garten pflanzen, wie er finden konnte.

Es hatte zwar in Europa seit der Pariser Weltausstellung 1900 schon japanische Kirschbäume gegeben, einzelne sogar davor. Doch waren sie selten und Ingram konnte nicht herausfinden, welcher Sorte seine beiden Kirschbäume zuzuordnen waren. Dies ließ in ihm die Erkenntnis reifen, er könne nur in Japan alles erfahren, was er wissen wollte. Er brach 1926 nach Japan auf, bestens vorbereitet auf die Reise und ausgestattet mit den richtigen Empfehlungsschreiben an die führenden Kirschbaumexperten.

Es wurde eine Kirschbaum-Pilgerreise, Sakura Angya. Angya ist ein Begriff aus dem Zen und bezieht sich auf die Wanderschaft von Mönchen und Nonnen zur Vorbereitung auf die Tätigkeit als spirituelle Lehrer. Wie eine Reise ins Gelobte Land der Kirschblüten wurde sie auch und legte den Grundstein für seine Expertise und Sammlerleidenschaft. Ingram fuhr in entlegene Berge, besuchte traditionelle Gärten und Klosteranlagen. Hier und da waren noch die selteneren Sorten zu finden, alles in allem war er jedoch über den Zustand der Kirschbaumkultur zutiefst enttäuscht.

Was in der Friedenszeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert von Daimyo-Fürsten und Gärtnern noch liebevoll gezüchtet worden war, zählte im Japan der Industrialisierung nichts mehr. Fabrikschlote mussten rauchen, die Natur blieb auf der Strecke. Kirschbaumalleen und -Gärten wurden ratzfatz umgeschitten. Stattdessen pflanzte man Teeplantagen und Maulbeerbaumalleen. Nutzen kam vor Schönheit.

Gleichzeitig startete die nationalistische Regierung eine Kampagne, in der sie die Kirschblüte als nationalistisches Symbol hochstilisierte und als Sinnbild des tapferen Kriegers ideologisch verbreitete. So wie die Kirschblüte nicht verwelkt, sondern in voller Blüte losläßt und zu Boden schwebt, so sollen auch Japans Soldaten jung und in voller Kraft ohne Zögern ihr Leben für ihr Land aufgeben. Den Kamikaze Piloten, auch Kirschblüten-Bomber genannt, las man Gedichte wie das folgende vor:

Heute in Blüte,
morgen vom Wind verstreut.
Das Leben ähnelt einer zarten Blume.
Wie kann man erwarten, dass ihr Duft ewig währt?

Für die ideologische Verbreitung der Kirschblüte als nationales Symbol brauchte man einen Baum, der schnell wuchs und robust war. Man wählte die „Somei Yoshino“ (Prunus × yedoensis), auch Tokyo Kirsche genannt. Sie wurde massenhaft angepflanzt. Auch ins Ausland wurden viele Bäume im Zuge der „Kirschblütendiplomatie“ verschenkt. Es waren wiederum Tokyo-Kirschen oder „Kanzan“, von denen gleich hunderte oder tausende gepflanzt wurden. Ingram Collingwood mochte die Sorte „Kanzan“, die bei uns so verbreitet ist, gar nicht und nannte sie aufdringlich und obszön: „Sie stellt ihre Pracht mit ekelhafter Penetranz zur Schau“ und „Das Auge ermüdet schnell von der aggressiven Schönheit dieser Kirschen.“ Sein Liebling war die schlichte Bergkirsche „Yamazakura“ oder die „Taihaku“, die Sorte, die er im Garten hatte und die er in Japan nicht mehr finden konnte. Sie war ausgestorben.

Ingram prangerte 1926 in einer Brandrede vor japanischen Kirschbaumexperten ihre Sorglosigkeit an und wollte sie wachrütteln, die Varietät der Sorten zu erhalten. Es gab wenig Widerhall. Das bestärkte ihn umso mehr, sein Leben der Rettung der Vielfalt der Kirschblüten zu widmen. Er ließ sich aus vielen Teilen Japans Triebe schicken und pfropfte sie auf vorhandene Bäume in England auf. Heute noch gibt es in England besonders viele Kirschblüten-Liebhaber und eine breitere Auswahl als anderswo. Seine Leidenschaft und Liebe bewahrte die Vielfalt japanischer Kirschbäume für die Nachwelt. Und er konnte nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich Japan die ausgestorbene Sorte Taihaku und viele andere Raritäten zurück schenken. Ingrams wunderbaren Garten mit den vielen Kirschblütensorten kann man heute noch in England besuchen.

Oft lesen wir heute, dass die Vielfalt in der Natur bedroht ist. Hier war ein Mensch, der sein Leben einem Baum mit seinen 400 Spielarten geweiht und so viel bewirkt hat. Was für ein Vorbild!

2 Kommentare zu “Die Reise der Zierkirschen nach Europa

Was denkst Du darüber?