Meditativ „tief“ lesen

Nachsommer-beschn

Vor kurzem habe ich einen Klassiker der österreichischen Literatur fertiggelesen. Endlich! 750 kleinbedruckte Seiten, x-fach windende Zeilen ohne Absätze, herausgegeben 1955. Es war Adalbert Stifters „Nachsommer“.

Schon lange war ich auf diesen Roman neugierig gewesen, denn mein Vater hatte ihn sehr geschätzt. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er auf der Terrasse unseres Blockhauses saß, die schöne Ausgabe in Dünndruckpapier und Goldschnitt in der Hand. Sein Blick schweifte sinnierend über die darunter liegende Sumpfwiese und weiter bis zu den dunklen Hügeln des Böhmerwalds. Hatte er sich nach einiger Zeit satt gelesen, stand er auf, setzte sich seinen grünen Hut auf und machte sich auf den Waldweg, der hinter dem Haus auf den Berg führte. Das passte gut zu den im Roman geschilderten Wanderungen übers Land. Manchmal durfte ich ihn begleiten.

Also setzte ich mich mit dem Buch zu Hause hin – jetzt ungefähr im gleichen Alter wie mein Vater damals – und begann zu lesen. Schon nach einigen Zeilen schielte ich nach meinem Handy. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Die lang geschwungenen Sätze, die umständlichen Beschreibungen von Schnitzaltären und Marmorstatuen und dazu noch das enge, unübersichtliche Schriftbild überforderten mich. Ich wurde kribbelig, legte es weg und kam zum Schluss: Ich kann das einfach nicht lesen.

Nach Weihnachten, in der ereignislosen Zeit des Nachrichten-Tiefstands und der langweiligen Jahresrückblicke erinnerte ich mich des Buches und packte es für meine Urlaubswoche in den Bergen ein. Erst nach ein bis zwei Tagen hatte ich eine Grundruhe erreicht, in der ich das Buch zur Hand nehmen konnte. Und siehe da, ohne Ablenkungen wie Nachrichten und Internet war sogar dieser altmodisch gesetzte Text lesbar, ja, sogar mit Genuss lesbar. Nun konnte ich mich stundenlang in die Beschreibung einer ideal humanistischen Welt des 19. Jahrhunderts hinein fallen lassen. Es brachte mich in einen ganz anderen, wundersamen Zustand und in ein Gefühl innerer Zufriedenheit.

Haben wir die Fähigkeit verloren zu lesen?
Ich frage mich nun, ob ich im Laufe meines Lebens die Fähigkeit verloren habe, mich im Alltag ruhig hinzusetzen und zu lesen.

Einige Einsichten zu dieser Frage brachte mir der Podcast des New Yorker Journalisten Ezra Klein vom 22. November 2022. In dem Podcast interviewte er die Leseforscherin Maryanne Wolf (U.C.L.A. School of Education and Information) zur Frage, ob sich unser Leseverhalten in den vergangenen Jahrzehnten verändert habe und was das mit uns mache.

Genetisch sind wir keine Leser
Wolf überrascht gleich zu Beginn mit dem interessanten Satz: Lesen ist in unserer Genetik nicht vorgesehen. Es gibt kein Lese-Gen und keinen Bereich im Gehirn, der für das Lesen zuständig ist. Was zunächst negativ klingt, biete aber einen unschätzbaren Vorteil, denn es hilft, unser Gehirn besser zu verdrahten.

Am Anfang ist es noch mühsam: In der Schule lernen wir Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe zusammenzusetzen. Mit der Zeit erhöht sich das Lesetempo. Je mehr wir lesen, desto schneller können wir den Sinn erfassen. Durch viel Lesen entstehen Netzwerke im Gehirn, die verschiedenste Gehirnregionen miteinander verbinden. Je komplexer unser Gehirn und je besser die Kommunikation zwischen den Gehirnarealen funktioniert, desto intelligenter und kreativer sind wir. Lesen wir sehr viel oder z.B. in verschiedenen Sprachen, dann bauen wir diese Netzwerke immer mehr aus, denn unser Gehirn ist plastisch und passt sich den Anforderungen an.

Nun fanden Leseforscher heraus, dass sich die Netzwerke nicht nur verändern je nachdem, WAS wir lesen, sondern WIE wir lesen – und was daraus zu folgern ist. Denn: was heißt das?

WAS wir lesen
Wenn ich eine Tageszeitung lese, überfliege ich die Überschriften. Ich sortiere Uninteressantes aus. Habe ich einen interessanten Artikel gefunden, dann lese ich ihn an. Sobald ich erkenne, was der Kern des Ganzen ist, blättere ich schon weiter. Ich lasse mich also nur kurz auf den Text ein. Buchlesen hingegen verlangt viel mehr Konzentration und Zeit. Da lese ich viel länger. Das Aussortieren spielt dann keine Rolle mehr. Ich lese einen Absatz, denke nach und lese weiter. Bei Romanen versetze ich mich in die Personen hinein, ich freue mich und leide mit ihnen. Ich ziehe Parallelen zu Situationen, die ich auch kenne. Eine ziemlich komplexe Angelegenheit also. Wolf nennt es „tiefes Lesen“.

Lesen ist also ein Prozess, der vom oberflächlichen Aussortieren in immer tiefere Ebenen bis zum „tiefen“ Lesen reicht.

An mir merke ich, dass sich mein Leseverhalten über die Jahrzehnte verändert hat. Ich bin heute ungeduldiger. Schuld mag das Lesen in digitalen Medien sein.

WIE wir lesen
Digital geht das Überfliegen und Eliminieren noch viel schneller. Ich wische die Information einfach weg. Die große Flut an Informationen trainiert mich regelrecht, dauernd Inhalte zu scannen. Gäbe es einen Quotienten, der das Verhältnis misst, wie viel Zeit wir im Lesemodus „Aussortieren“ und „tief“ Lesen verbringen., dann wäre das schätzungsweise vor einigen Jahrzehnten bei 10% zu 90% gewesen. Heute, vermute ich, wäre es genau umgekehrt: Von 100% „Lesestoff“ würde ich über 90 % drüber scannen und nur 10% konzentriert lesen.

Das macht etwas mit unserem Gehirn sagt Maryanne Wolf: Es passt sich dem Medium an. Für das digitale Lesen brauchen wir nämlich nicht das gesamte Netzwerk unseres Gehirns, sondern nur einen kleinen Teil. Es werden kaum neue Netzwerke gebildet, alte Verbindungen bilden sich zurück. Deshalb bleiben die Inhalte an der Oberfläche und wir vergessen praktisch alles, was wir gelesen haben. Ihr Tipp ist daher: Schreibt die Dinge auf, die ihr beim digitalen Lesen behalten wollt. Sonst sind sie für immer verloren.

Interessant fand ich ihren Satz: „Digitales Lesen oszilliert zwischen der Gier Neues zu erfahren und einer Haltung der Abwehr, um Werbung und nicht Relevantes abzublocken.“ Das erklärt, warum ich mich einerseits schwer von den sozialen Medien lösen kann, weil die Gier nach Neuigkeiten mich weitertreibt. Andererseits ist es ziemlich anstrengend, Werbung und Uninteressantes dauernd gedanklich ausblenden zu müssen. Ich fühle mich danach oft erschöpft.

Wolf warnt, dass durch das häppchenweise digitale Lesen, so unvermeidlich es heute ist, unser Gehirn über die Jahre so konditioniert wird, dass uns die Fähigkeit uns länger auf ein Thema zu konzentrieren, darüber nachzudenken und nachzuempfinden abhanden kommt.

Zeitinseln schaffen
Ich kann bestätigen, dass es für mich einen großen Unterschied macht, WIE ich lese. Es geht mir nach dem Lesen eines Buches besser. Ich bemühe mich deshalb, Zeitinseln für „analoges“ Lesen zu schaffen, z.B. in der Mittagspause und vor dem Schlafengehen. Zwischendurch nütze ich Wartezeiten. Dafür stecke ich meist ein Buch in Kleinformat in meinen Rucksack, damit ich nicht in Versuchung komme, nach Gratiszeitungen oder zu meinem Handy zu greifen.

Lesen nach der Meditation und vor dem Schlafen
Besonders gut hat mir die Bemerkung von Maryanne Wolf gefallen, ihr Tag beginne mit Meditation und danach lese sie spirituelle oder philosophische Werke. Meditieren und Lesen zentriere sie für den Tag, ließe sie unangenehme Träume vergessen und mache sie innerlich für den Tag bereit.


Am Abend wählt sie Bücher, die sie gedanklich von der Arbeit von diesem Tag wegbringen, lustige oder langweilige Bücher, dann fällt sie in einen wohligen Zustand des Friedens, bereit zum Einschlafen.

Ich werde es nie schaffen, zum Lesequotienten meiner früheren Jahre zurück zu kehren. Doch jetzt weiß ich, dass alles, was ich digital lese, mein Gehirn konditioniert und mich dadurch immer weiter vom Bücherlesen weg bringt – dem werde ich entgegen steuern. Auf meinem Abstelltisch stapeln sich schon die Bücher.

10 Kommentare zu “Meditativ „tief“ lesen

  1. Liebe Fleur,
    Sehr schöne Beitrag, es geht mir ähnlich, meine Bücher stapeln sich und mir geben die gelesene Bücher ein besseres Gefühl und auch Zeit noch über die Geschichte nachzudenken .
    Digital gehts auch , aber ich fühle es mehr oberflächlich .
    Liebe Grüße Majda

    • Liebe Majda,
      Ich denke nach, wie es mit einem E-Reader ist. Ich lese mit dem Kindle in der Nacht, damit ich niemanden aufwecke. Da lese ich zwar ein Buch, aber nur etwas, worüber ich nicht nachdenken muss (sonst könnte ich ja nicht einschlafen), also einen nicht allzu spannenden Krimi. Da kann ich zwar in die Geschichte eintauchen, aber der Orientierungssinn fehlt. Ich finde frühere Stellen nicht so gut, also ist mir ein richtiges gedrucktes Buch viel lieber. Es ist schön, Papier anzugreifen und ich merke die Sache viel besser. Das Gefühl ist vollkommen anders, so wie du schreibst.
      Liebe Grüße,
      Fleur

  2. Ein sehr interessanter Bericht!
    Ich persönlich entdecke aber auch immer mehr Hörbücher die ich zum Beispiel im Auto oder auch zu einem Zeitpunkt höre wenn die Augen zu müde zum lesen sind.
    Gibt es hierzu auch Erfahrungen und Erkenntnisse?

    • Lieber Bernd,
      Ich habe auch Hörbücher ausprobiert, allerdings habe ich wieder aufgehört. Das WIE ist bei Hörbüchern sicherlich wiederum unterschiedlich. Aber es kommt sicherlich auch darauf an, was man hört.
      Nachdem der Hörsinn noch viel mehr direkt mit unseren Emotionen verbunden sind, gilt hier sicher das gleiche wie bei Bücherlesen, wir sind emotional involviert, es vernetzt mehr Hirnbereiche als das digitale Lesen. Allerdings ist es schwieriger, verglichen mit dem Buchlesen, mit den Pausen. Kann man beim Autofahren Alexa oder Siri zurufen „Stop“ um nachzudenken dazwischen? Das weiß ich nicht.
      Warum Hörbücher für mich nichts sind, hängt mit meiner Veranlagung zusammen. Meine Kollegin Sylvia Löhken hat sich stark mit Intro- und Extrovertierten auseinander gesetzt. Ich bin introvertiert und habe in mir eine Menge innerer Gedanken, denen ich nachhänge. Da passen keine zusätzlichen Inhalte hinein. Ich brauche unbedingt Pausen, um alles zu verarbeiten. Extrovertierte hingegen lieben Inspirationen von außen, das belebt sie. Für Extrovertierte sind Hörbücher sicher ideal.
      Und: Ich glaube nicht, dass es in der Hirnforschung zu Hörbüchern Studien gibt, es würde mich auch interessieren.
      Herzliche Grüße, Fleur

  3. Liebe Fleur,
    Ich kann alles, was Sie schreiben, nur bestätigen. Mir geht es genauso.
    Danke für diese sehr interessanten Informationen.
    Lg Isolde

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