Stille: eine aussterbende Art – oder doch nicht?

Ertragen wir die Stille nicht mehr?

Kürzlich sah ich einen Film, in dem eine Großstädterin wegen einer Autopanne unfreiwillig auf einem Bauernhof in der Einschicht gelandet war. Am ersten Abend konnte sie nicht einschlafen. Was sie störte war … die Stille. Schließlich schaltete sie ihr Handy an und spielte sich Verkehrslärm vor. Der Lärm ließ sie selig einschlafen. Das wiederholte sich einige Tage, bis sie sich an die Stille gewöhnt hatte.

Die Welt ist laut geworden. Manche passen sich an und brauchen den Lärm wie die Frau im Film, andere leiden darunter. Ich gehöre zur zweiten Art. Ich brauche Stille, denn nur ohne Ablenkungen kann ich denken. Impulse von außen wie Lärm oder Musik kosten mich zu viel Energie, da entschwindet jeder kostbare Gedanke. Das mag die Bürde introvertierter Menschen sein.

Fluchträume für Lärm-Flüchtlinge

Die vergangenen drei Tage waren für mich besonders schlimm. In der Nachbarschaft war ein Saugbagger im Einsatz. Kennst du nicht? Kannte ich auch nicht. Das ist ein Ungetüm an dem ein bis zu 150 Meter langer Schlauch hängt, der bis zu 100 Kilo Bauschutt auf einmal einsaugen kann. Beim Eintritt in den Schuttbehälter entwickelt dieser eine Geschwindigkeit von bis zu 400 kmh! Als ich schon am Ende meiner dünnen Nerven war, wollte mein Mann es ganz genau wissen. Er installierte eine Schallmessungs-App am Handy und maß die Dezibel: Innen, an meinem Schreibtisch maß er 49 db, im Vorraum 84 db. Das sind Werte für den Auspuff eines Ferraris der vorbei fährt, hier aber Dauerschall acht Stunden, und das drei Tage lang! Also auf ins Cafe mit Laptop und Unterlagen. Und was war da? Erraten, hier brummte der Käse-, Butter-etc. Kühlschrank!

Wohin ist die Stille entschwunden?

Erstens fehlt im Allgemeinen das Bewusstsein für Lärm. Für Geräte gibt es zwar gesetzliche Richtlinien, doch im Zusammenspiel und mit der Dauer wird es schwer erträglich. Es gibt noch viele andere, quälende Lärmsituationen. Etwa wenn in deiner Gegend die Laubbläser aufheulen. Meist weil die Gärtner zu faul sind einen Besen zur Hand zu nehmen, aber auch weil dieses Ding so wunderbar „männlich“ ist. Oder wenn in deiner Gegend einer den Rasen nicht mit einem „normalen“ Rasenmäher mäht, sondern mit so einem Turbogerät, das gleich das geschnittene Gras einsaugt. Das macht einen Höllenlärm und wird etwa in meiner Nachbarschaft genau zur Mittagszeit eingesetzt, weil dann die Auftraggeberin nicht zuhause ist. Zur Mittagszeit in der Sonne auf der Terrasse sitzen? Fehlanzeige. Sonntag nachmittags sowieso. Da kommen die Ferienflieger im Minutentakt über deinem Kopf heim.

Zweitens wurde die Erregung der Aufmerksamkeit zur höchsten Marketing-Währung. Alle, die etwas verkaufen wollen, konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit. Weil die meisten Menschen in unseren Breiten ohnehin schon alles haben, muss das Geschrei immer lauter werden. Surfe ich ein bisschen im Internet um an die Tagesnachrichten zu kommen, poppt ein Werbespot auf, der mir Sachen erzählt, die ich gar nicht wissen will. Radios unterbrechen ihre Sendungen mit Angeboten, die mir in angestrengt lustigem Ton einreden wollen, dass der ultimative Burger oder das Möbelhaus-Sonderangebot auf mich warten. Hie und da drehe ich die TV-Thek am Laptop auf, einen normalen Fernseher habe ich ohnehin nicht. Wenn der Film vorbei ist und ich mich wohlig zurücklehne, wird der Abspann plötzlich unterbrochen und Werbung eingespielt. Das trifft mich immer wie ein Donnerschlag. Sicherlich geht diese Unsitte auf die Erkenntnis zurück, dass man entspannt besonders offen und manipulierbar ist. Fazit ist: Ohne Aufmerksamkeit kein Geschäft. Mit mir jedenfalls nicht. Mich nervt das bloß.

Drittens: Entspannungsmusik ist allgegenwärtig. Seit ganze 200 musikpsychologische Studien herausgefunden haben, dass bestimmte, gleichförmige Musik entspannend wirkt, laufen in allen Massagesalons, Zahnarztpraxen, Einkaufstempeln und Fitnessstudios plätschernde Klangteppiche. Dass diese permanente Beschallung angenehm auf die Menschen wirkt, soll mir die Musikpsychologie aber mal beweisen! Bei mir wirkt sie kontraproduktiv.

Viertens wird Musik dazu verwendet, um andere Geräusche zu übertönen. Beim Zahnarzt das Schmerzensgestöhne der Patienten, in Kaffeehäusern die Gespräche der Nachbarn. Nur in den U-Bahnen sind wir noch vor Musik verschont, dafür gibt es immer wieder Passagiere, die lauthals ins Handy schreien. Meistens unverständlich, denn wenn die Mama in Serbien sitzt, ist es ja auch weit weg, da muss es laut sein. Als ob es nicht genügte, dass der Lärm von Autos, Zügen und Flugzeugen die Luft erfüllt! Können wir uns in die Stille von Gebäuden retten? Vor Jahren fragte mich einmal ein Freund, ob ich ein Kaffeehaus kenne, das einen Stillebereich habe. Ich wusste keines.

Was ist die Lösung?

Dabei wäre es bei uns in Österreich gar nicht so schwer. Als vor einigen Jahren per Gesetz Restaurants und Kaffeehäuser Glaswände aufstellen mussten, um den Raucherbereich abzutrennen, entstanden überall zwei Räume. Die gibt es meistens immer noch. Vor kurzem besuchte ich ein Lokal, das den extra Raum mit Glaswand für Eltern mit Kindern reserviert hat. Dort ist eine Kinderspielecke eingerichtet, wo Kinder toben und schreien können. Die Glaswand hält den Lärm vom Rest des Kaffeehauses ab. Genauso könnte man umgekehrt Räume der Stille für Menschen schaffen, die wirklich abschalten wollen oder in Ruhe ein Buch lesen wollen, stille Cafés quasi.

Nun, es gibt Hoffnung und Initiativen. In Zürich vermietet etwa ein Kaffeehaus einen extra Leseraum. Dort kann man in Stille arbeiten, schreiben oder lesen. Allerdings wird durch dieses Angebot offenbar, dass Stille schon so kostbar ist, dass man dafür zahlen muss. Einen anderen Weg ist ein Supermarkt in Sachsen gegangen.

Dort ging es um Menschen, die ganz besonders unter zu vielen Impulsen von außen leiden, um Autisten. Sie ertragen keine „Entspannungsmusik“ und laut sprechende Menschen. Für sie führte der Supermarkt eine stille Stunde ein. Jeden Mittwoch zwischen 15 und 17 Uhr herrscht Stille – ohne Hintergrundgeräusche. Die Mitarbeiter reduzieren ihre Arbeiten auf das Nötigste und die Kassen piepsen nicht. Sogar der Leergutautomat wird abgeschaltet und ein Mitarbeiter nimmt die leeren Flaschen entgegen, auch das Licht wird herabgedämmt.

Inzwischen nutzen nicht nur Autisten, sondern viele Menschen das Angebot der „stillen Stunde“. Sie finden die ruhige Atmosphäre wohltuend. Sogar die Mitarbeiter freuen sich schon darauf, weil auch für sie die Dauerbeschallung nervenzermürbend ist. Angeregt durch die guten Erfahrungen hat das Fitnessstudio im gleichen Ort ein „stilles Training“ eingeführt. Wie schön wäre es, wenn es auch in anderen Städten „stille Stunden“ oder „stille Orte“ gäbe.

Wohin also flüchten? „Solange es keine „stillen Stunden“ und keine „stillen Cafés“ gibt, fallen mir in der Stadt nur zwei Orte ein: entweder du setzt dich in eine Kirche oder du meditierst in einem Zendo.

6 Kommentare zu “Stille: eine aussterbende Art – oder doch nicht?

  1. Das schreibt mir eine liebe Freundin der Seele. Danke für die Information, dass in Österreich auch Billa eine stille Stunde eingeführt hat. Es gibt Hoffnung!

    Hier die Zeilen:

    Ich kann deine Gedanken und Erlebnisse sehr gut nachvollziehen! Als teils introvertierte HSP ist für mich die STILLE auch lebensnotwendig! Gehe auch deshalb gerne in Kichen bzw. Meditationszentren, oder zumThalia Bücher schmökern. In den Öffis bin ich oft mit kabelgebundenen Ohrhörern unterwegs, damit der Schall etwas reduziert wird. 😉 Und wenn ich will höreich meine eigene Musik! 🙂

    Lt. Web gibt es auch in Ö (Linz, Wien, Graz, Neusiedl) stille Stunden in Supermärkten:

    https://kurier.at/wirtschaft/billa-testet-stille-stunde-keine-musik-billa/402452685

    Am Hauptbahnhof gibt es einen Raum der Stille:

    https://www.erzdioezese-wien.at/pages/inst/25755349

    Buch: Wiener Orte der Stille“:

    https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/wiener-orte-stille-wien/autor/sindemann-katja/

    Hoffe auch, dass es in Ö bald mal stille Cafes geben wird.

  2. Ja wehren wir uns! Oft machen wir das auch. In Cafés bitten wir die Musik leiser zu drehen, in Taxis auch – mit unterschiedlichen Reaktionen, auch bei der Massage. Aber oft ist es einfach Vorschrift und die Angestellten können nichts machen.

  3. Liebe Fleur,
    herzlichen Dank für Deinen wunderbaren blog – Du sprichst mir aus der Seele!
    Vielen Dank für die Inspirationen, die Initiative des Supermarkts finde ich berührend und zu Herzen gehend.

    Dieses Zitat Sören Kierkegaard finde ich bewegend:
    „Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst du? – Ich würde antworten: Schaffe Stille.“

    …und Dankeschön auch dem Kommentar aus Belgien! 🙂
    Ein Herzensprojekt von mir ist das „Restaurant der Stille“: Ein Ort in der lärmenden City Hamburgs, der sich anfühlt, als betrete man für die Dauer der Mittagspause eine Oase: Wohltuende Stille, die zum Innehalten einlädt und zum echten Erholen von der Hektik des Alltags. Es gibt hier weder Unterhaltungen noch Telefonate. Gemeinsam genießt man mit allen Sinnen leckeres Essen und Trinken in einer stimmigen Raumatmosphäre. (https://www.ines-wrusch.de/engagement)

    Alles Gute weiterhin!

    Sehr herzlich
    Ines

  4. ach die Stille …..schön!!

    Bei uns können die Städter auch nie schlafen „weil es zu still ist“ 🙂

    Stille in Restaurants fände ich göttlich! Wer braucht bei Essen Musik? isst man alleine nimmt man das essen wahr, isst man zusammen will man sich unterhalten was -auch in unserem Alter – immer schwieriger wird mit dem Hören gegen die Musik

    Stille gibts manchmal auch in Museumsgärten oder im Zoo bei den „unattraktiven“ Tieren und im Wald

    LG nach Wien aus Belgien!

      • Ja es ist als hätte sich alles gegen die Stille verschworen. Selbst in Spa´s und Wellnessabteilungen wird man jetzt dauerberieselt. Vielleicht sollten wir öfter darauf hinweisen,denn sonst stimmen wir ja zu.

Was denkst Du darüber?