Unsere Katze kam vorgestern mit einer großen Kopfwunde nach Hause. Sie miaute immer wieder wehklagend und rührte sich kaum mehr von ihrem Lieblingsstuhl weg; meist schläft sie, in sich zusammengerollt, Stunde über Stunde. Hie und da schleicht sie zum Futternapf, frisst und kehrt gleich wieder zu ihrem Schlafplatz zurück. Sie verhält sich rekonvaleszent. „Die macht es richtig“, sagte heute Paul, mein Partner für alle Lebenslagen, zu mir. „Wir aber, wir würden wahrscheinlich trotzdem zu unserem Termin fahren“.
Wie recht er hat! Wenn ich es recht bedenke, gehe ich hauptsächlich mit dem Kopf durch mein Leben – seit Jahrzehnten! Er setzt sich mit seinen Plänen, den Gedanken und seinem Willen immer durch. Der Körper muss da einfach mit. Unserer Katze könnte das nicht passieren. Sie lebt nicht so im Widerstreit zwischen Kopf und Körper, zwischen Zukunft und Jetzt.
Seit einigen Jahren beginne ich jedoch zunehmend, meinem Körper zuzuhören. Einerseits liegt das möglicherweise am Älterwerden, andererseits denke ich, an meiner Zen Praxis . Denn wenn ich tagelang meditiere, dann spielt sich in den ersten zwei Tagen meist ein Kampf zwischen Körper und Kopf ab, der sich in Schmerzen äussert. Und Schmerzen kann mein Kopf nun doch nicht ignorieren. Es ist genau ein Punkt innerhalb der Schulterblätter, der dann höllisch weh tut. Dort verknotet sich die Verspannung, und gerade wenn sich alles entspannen sollte, rächen sich die Verspannungen des Alltags. (Der Punkt verkrampft sich immer dann, wenn ich denke „ich muss etwas tun“, dann spannt sich der rechte Arm an und macht sich bereit zur Aktivität, obwohl sie nicht viel Lust bereitet. Und das passiert ziemlich oft.) Noch ein weiterer Tag Meditation, dann stellt sich langsam der Kopf ab und die Muskeln entspannen sich. Plötzlich ist da eine neue Harmonie. Diesen Kampf nehme ich im Alltag nicht wahr, da es im Kopf permanent laut ist.
Nun habe ich vor kurzem eine Bewegungsform kennengelernt, in der der Körper die Ruhe hat, zu sprechen.
Eine Kollegin aus früheren Japanologie Tagen führt seit 18 Jahren in Wien eine Shiatsu Schule (www.kiatsu.at). Sie hat – basierend auf den Ausbildungen, die sie über die Jahrzehnte in Japan gemacht hat – eine Reihe von Übungen entwickelt, die sie Do In Meridian Yoga nennt. Drei Stunden lang lag ich in einem dunklen Raum auf einer Matte und hörte meinem Körper zu. Wir machten zwei (!) gaaaanz laaangsame Übungsabläufe. Diese Bewegungen waren so langsam, dass ich am Anfang dachte, das bewirkt ja gar nichts. Nach drei Stunden stellte ich fest – es bewirkt viel mehr als aktives Trainieren! Warum? Weil durch die Langsamkeit der Geist zur Ruhe kommt. Dann höre ich, was mir meine Muskeln und Verspannungen sagen wollen. Nach und nach kehrt Harmonie ein.
Je älter ich werde, desto mehr wenden sich meine Ohren nach innen und desto besser verstehe ich die leise Stimme meines Körpers. Und so neige ich mich ihm zu und frage ihn immer öfter: „Ist das gut für Dich?“
Stille ist gut für ihn, gesundes Essen ist gut für ihn und – auch hie und da eine Herausforderung, wo er an seine Grenzen kommt.
Es ist kein Zufall, dass dein Beitrag heute auf mich zukommt. Mein Kopf ist zum Bersten voll von Gedanken – ein unermüdliches Werkel, bei dem schon mal was unter die Räder kommt. Schade drum!
Beim Lesen des Blogs ist mir aufgefallen, dass mein Atem ruhiger, tiefer wurde. Ich lächle und freu mich über meine Aufnahmebereitschaft von Impulsen. Danke dafür!
Danke, danke, danke!
Ein guter Freund aus dem Studium ist heute Orthopäde. Früher war er ganz klassisch operativ unterwegs. Heute sagt er etwas provokativ: 50% der Erkrankungen des Bewegungsapparates sind Bewegungsmangel, 50% psychosomatisch. Bewegungsmangel ist nicht der, den wir uns im Zazen auferlegen, sondern der allgemeine, den die Kopfarbeiter im Alltag haben. Psychosomatisch sind körperliche Ausdrucksformen der Psyche, denn Körper und Geist sind ja nicht getrennt. Und weil die Psyche nicht durch unseren Verstand zu uns sprechen kann, bedient sie sich halt des Körpers.
Im Mai hat meine ältere Tochter Abitur gemacht. Im August ist sie ins Au-Pair aufgebrochen. Vor den Sommerferien im Juli hatte ich auf der Arbeit neben den Alltagsaufgaben noch ein großes Projekt abzuschließen. Ich war zunehmend verspannt im Schulter-Nacken-Bereich, hatte Kopfschmerzen, die ich so nicht kenne. Ein nicht allergischer Schnupfen weckte mich zuverlässig fast jede Nacht gegen 4 Uhr. Durch das Zazen am Morgen wird alles immer besser, kommt aber im Tagesverlauf wieder. Ja, der Stress halt…
Dann kommt zum Glück der Sommerurlaub. Wir sind am Meer. Das Haus liegt in einem Wäldchen in den Dünen. Das Grundstück ist naturbelassen. Mit dem Rasenmäher sind Wege durch die Wiese gemäht. Ein Platz unter Bäumen, weiches Moos unter den Knien, lädt zum Zazen ein. Ich sitze viel und intensiv ohne Zeitvorgabe. Das ist der Vorteil im Urlaub. Oft bleibe ich auch nach dem Zazen noch sitzen und lausche und schaue und fühle in die Natur.
Inmitten der Wiese nehme ich einen zarten, schon braunen Grashalm wahr. Im Wind wiegt er sich hin und her. Seine Tage als Grashalm sind gezählt. Mit einem Schlag wird mir alles klar. Ich spüre es durch und durch. Der Auszug meiner Tochter konfrontiert mich als kleines Ich unmittelbar mit dem Loslassen-Müssen. Ich werde älter. Eine jüngere Generation übernimmt. Alles ist endlich. Ich als kleines Ich bin endlich. Ich als kleines Ich habe Angst davor. Daher rühren die Blockaden.
Ein kurzer Gedanke „Der Grashalm hat bestimmt keine Angst“ lässt mich schmunzeln. Und mit einam Mal spüre ich eine enorme Energie und tiefe Freude, die mich erfüllt. Mit meinem ganzen Sein spüre ich das „Ganze“ dahinter, in dem es weder Raum noch Zeit gibt, keine Projekte, kein Au-Pair, keinen Grashalm, keinen Michael, das aber zugleich all dies hervorbringt und sein lässt.
Ein Sesshin nur ein paar Tage nach dem Urlaub rundet alles ab. Das alle Beschwerden inzwischen verschwunden sind, ist klar.
Immer wieder bin ich meinem Lehrer und allen dankbar, die mit mir sitzen. Dankbar, dass sich mir dieser Weg eröffnet hat.
Natürlich hätte ich auch zu einem Kollegen, einem Orthopäden gehen können. Als Privatpatient hätte ich ein Kernspin bekommen. Wir hätten gesehen, dass meine inzwsichen 52-jährige Wirbelsäule auch nicht mehr frisch ist. Und natürlich hätten wir mehr oder weniger aufwendige Therapien durchgeführt. Tabletten, Spritzen und etwas Krankengymnastik hätten meine Beschwerden verschwinden lassen. Aber nicht die „Krankheit“.
Lieber Michael,
Danke, dass Du Dein Erlebnis mit uns geteilt hast. Und – als Arzt – hast Du wunderbar die beiden Alternativen beschrieben. Gassho Fleur
ich hoffe sehr, ihr seid beim Tierarzt gewesen – klingt schlimm, was der Katze passiert ist und sollte nicht bagatellisiert werden . Da ist eine Sepsis oder zumindest eine schlimme Entzündung schnell da, ganz abgesehen von den Schmerzen und dem Leiden, die durch eine ärztliche Behandlung erspart bleiben. Hoffe, es geht ihr schon wieder besser!
Danke Ruth für den Tipp, es geht ihr schon besser.