An Tagen, an denen ich unruhig bin, an denen die Gedanken durch den Kopf wirbeln und ich mit meinen Emotionen durch die Decke gehe, ist es besonders schwierig, mich auf die Matte zu setzen und zu meditieren. An solchen Tagen begebe ich mich mental auf eine Reise, in der ich mich in einen Baum hinein versetze.
Ein Baum braucht breite und tiefe Wurzeln, wenn er seine Krone entfalten will. Genauso ist es bei uns. Auch wir brauchen in unserem Körper Verankerung und Erdung, damit wir aussen unsere Ideen kraftvoll umsetzen können.
Die Reise beginnt mit der Vorstellung, dass der Atem an meinem Körper hinunterfließt. Bei jedem Ausatmen entspannen sich meine Muskeln und lassen los. Nach kurzer Zeit stelle ich mir vor, wie aus meinen Füßen kleine Wurzeln in den Boden wachsen. Beim Ausatmen werden diese Wurzeln stärker und länger und finden ihren Weg durch das Erdreich in die Tiefe, sodass nach einigen Minuten ein weit verzweigtes Netz an Wurzeln gewachsen ist. Sie geben mir eine neue, konzentrierte Kraft und eine Verankerung in der Erde. Ich bin am Ort und im Jetzt angekommen. Neugierig geworden? Hier gibt es die Audio – Anleitung.
Bäume sind Lehrmeister des Überlebens. Bei meinen Wanderungen sehe ich oft am Berg einen von Stürmen zersausten Baum. Die anderen Bäume waren gefällt worden oder sind abgestorben und er steht einsam und stemmt sich den Winden entgegen. So ein Baum rührt mich besonders an. Er kann nicht weglaufen. Sein Leben lang muss er an dieser unwirtlichen, lebensfeindlichen Stelle bleiben. Und ich frage mich dann: Wie würde ich mich da fühlen?
Doch gerade diese „bodenständige“ Qualität hat Pflanzen zu besonderen Leistungen befähigt. Darauf machte mich das Buch von Stefano Mancuso aufmerksam, einem Professor für Pflanzenbioneurologie der Universität Florenz: „Die Pflanzenrevolution. Wie die Pflanzen unsere Zukunft erfinden.“ Dieses Buch war für mich ein absoluter „Pageturner“ – zu lesen wie ein Krimi, nur dass er in der realen Welt spielt.
In einem der ersten Kapitel entdeckte ich einen besonders interessanten Gedanken. Darin ging es um die Unterschiede von Tieren und Pflanzen, insbesonders in bezug auf ihre Überlebensstrategien. Ich hatte mir darüber noch nie Gedanken gemacht.
Tiere und Pflanzen hatten vor 16 Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren und entwickelten sich danach auseinander. Tiere suchten ihr Futter, indem sie jagten oder von einer Stelle zur anderen wanderten. Auch heute laufen sie weiter, wenn sie an einem Ort nichts mehr finden und sie flüchten, wenn Gefahr droht. Wenn das Wetter nicht stimmt, wenn es zu kalt, zu heiß zu feucht ist, laufen sie davon. Wenn sie keine Nahrung mehr finden, oder wenn stärkere Platzhirsche sie aus ihrem Gebiet vertreiben, laufen sie davon. Ihr vorherrschendes Muster ist die Flucht.
Mit uns Menschen ist es genauso. Wenn es Probleme gibt, ziehen wir weiter. Wenn ein Jugendlicher am Land mit seinen Eltern nicht zurecht kommt, geht er in die Stadt. Wenn unsere Beziehung nicht glücklich ist, trennen wir uns und suchen einen neuen Partner. Wenn wir zu Hause Konflikte haben, weichen wir in die Arbeit aus. „Augen zu und weg“ ist unsere erste und üblichste Antwort auf schwierige Situationen – seit Jahrtausenden. Ebenso gehen wir mit Dingen um, die wir nicht mehr brauchen, wir schicken sie weg. Die alten Autos werden nach Afrika transportiert, die Plastikabfälle in die Türkei. Hauptsache, sie sind weg.
Solange wir wenige Menschen auf der Erde waren, war diese Strategie zwar nicht vorausschauend, aber möglich. Doch heute wird es eng auf der Welt. Die weißen Flecken auf der Landkarte sind verschwunden. Freie Landschaften werden mehr und mehr zugebaut. Die letzten Dschungel und Regenwälder werden gerodet. Und der Ausweg, die vermüllte und ausgebeutete Erde zugunsten eines Mars oder anderen Planeten zu verlassen, braucht noch ein paar Jahrzehnte oder Jahrhunderte. In dieser Sackgasse müssen wir erkennen, dass uns Grenzen gesetzt sind und Weglaufen keine Option mehr ist.
Pflanzen müssen von vorneherein mit Begrenzungen umgehen. Sie können nicht fortlaufen, denn sie sind mit ihren Wurzeln untrennbar mit der Erde verbunden. Ein Baum, der den Winden ausgesetzt ist, kann nicht einfach fort, so sehr er es sich auch wünschen würde. Erst seine Samen, also die nächste Generation, könnten bei günstigem Wind einen geeigneteren Standort finden. Das heißt Pflanzen müssen mit dem auskommen, was DA ist: mit der Erde, dem Wetter, der Dürre, dem Sonnenlicht, der Luft und dem Regen.
Da sie nicht weglaufen können, bestehe ihre Strategie darin, ihre Umgebung aufmerksamer als Tiere und Menschen zu beobachten, sagt Mancuso. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist enorm, auch wenn sie keine vergleichbaren Sinnesorgane besitzen. Ihre Wurzeln reagieren seismografisch auf Licht, Schwerkraft, Berührung, Sauerstoff, Lautquellen und elektrische Felder. Und sie können sich durch extrem hartes Material wie Granit bohren. Diese Eigenschaften haben Mancuso sogar dazu bewogen, vollkommen neue Roboter zu entwickeln, die ihre Wirkungsweise an Pflanzen orientieren. Die so genannten Plantoiden bohren sich in die Erde, nehmen mit ihren „Wurzeln“ die Informationen aus dem Boden auf und senden die Daten an das Netzwerk der anderen Plantoiden. Ihr Aufbau und ihre Fähigkeiten sind vollkommen anders als bei anderen Robotern. Sie können bei radioaktiver Verseuchung, in Minenfeldern, in der Weltraumforschung und anderen Gebieten eingesetzt werden.
Ich denke, dass die Strategie der Pflanzen, die besten Bedingungen für ihr Leben an ihrem Standort zu entwickeln ein Vorbild für uns Menschen sein könnte. Wir könnten von ihnen lernen, uns den Problemen, die uns umgeben, direkter zu stellen. Wenn uns etwas nicht passt, nachzudenken, wie wir es ändern können und nicht wegzulaufen.
Die Qualitäten, die wir durch Meditation entwickeln, können da helfen. Denn meditieren heißt zu allererst Wurzeln schlagen und dann achtsam werden für das was in mir und rund um mich passiert. Dann bin ich genau da, wo ich bin und nicht mit meinem Kopf im Wünsch-dir-Was-Land. Die Baummeditation ist dafür ein guter Anfang.
Liebe Andrea, Dein Kommentar freut mich sehr. Ich habe diesmal gar keine Rückmeldung auf meinen Blog bekommen. Schön zu wissen, dass es ähnlich Denkende gibt. :-). LG Fleur
Liebe Fleur, ich war früher auch eine Flüchterin.
Seit ein paar Jahren bleibe ich.
Und siehe da, die Beziehungen wachsen in die Tiefe und die Begegnungen, die aus diesen verwurzelten Beziehungen entstehen entwickeln sich in ungeahnte Höhen. Danke für das in Worte fassen!