Lebendige Orte der Stille

Ötscher

Drei Mußetage am Berg

Vergangene Woche habe ich mir und meinem Partner drei Mußetage verschrieben. Ab Donnerstag, denn am Wochenende wird uns oft ein Samstag oder sogar ein Sonntag abgeknipst, und die Abende sind auch meist voll besetzt. Wir wählten dafür ein kleines Dorf in den Bergen aus und es hat sich ausgezahlt. Strahlende Sonne am Berg, während in den Tälern noch der Nebel lag. Wenn die Natur so überwältigend ist, tritt die Übernachtungsgelegenheit in den Hintergrund. Das Zimmer war klein und schlicht mit wenig Raum um sich umzudrehen. So weit so gut, nur: Wo sollte ich meditieren? Sollte ich meinen Partner hinausschicken? Bei schönem Wetter ist das ja ok, bei Nieselregen anderntags hätte sich nur das Wirtshaus angeboten. Nein, da gab es doch etwas viel Besseres. Ich überliess meinem Partner das  Zimmer und ging über die Strasse zur Dorfkirche. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass die Kirche an einem Donnerstag Nachmittag offen wäre. Doch: Ich hatte Glück und drückte das schwere Holztor auf. Sie war offen! Unter der Woche, ausserhalb der Messen, was für ein Service! Die Kirchenbänke waren zwar nicht gerade Lotussitz geeignet (nicht dass Ihr glaubt, ich sitze im vollen Lotus ;-)), doch fand ich eine gute Haltung, um in die Meditation zu kommen. Die Kirchenglocken läuteten meine Meditationsrunden ein und aus.

Es gibt keine besseren Orte in der Öffentlichkeit zu meditieren als Kirchen. Vor allem unscheinbare Kirchen, in die keine Touristen hinein latschen. Und die Stille der Kirchen ist anders als nur die Abwesenheit von Lärm. Jahrhundertelang haben Menschen dort gebetet und ihren Geist konzentriert. Diese Dorfkirche ist 1217 gegründet worden. 797 Jahre lang wurde dort gebetet. Ich rechne mir das nochmals durch wie viele Tage dort Menschen ihr Herz und ihren Geist zur Ruhe gebracht haben – es sind 285.905 Tage!  Zweihundertfünfundachtzigtausendmal ist diese Stille verstärkt worden. Von vielen vielen Menschen mit unterschiedlichen Gebeten, unterschiedlichen Gefühlen und unterschiedlicher Inbrunst. Kein Wunder, dass ich es so empfinde, dass jede Kirche eine andere Art der Stille durchwebt. Ich kann sie nicht aufnehmen und nicht fotografieren. Ich speichere sie in meinem Inneren und das ist genug.

Mitten in unserem geschäftigen Leben stehen die Kirchen, lebendige Orte der Stille, jederzeit betretbar, ohne Eintrittsgeld für jeden bereit. Nutzen wir sie!

Zen-Klausur: Von innen leben

Zazen in der Hütte

Viele Zen-Meister haben sich immer wieder in die Berge zurückgezogen um zu meditieren. Auch Bassui Tokusho Zenji (1327-1387), mit dem ich mich vor einiger Zeit intensiv beschäftigt habe. Er hatte fast sein ganzes Leben zurückgezogen in einer Hütte am Berg gelebt.

Warum ausgerechnet in den Bergen? Ich wollte das herausfinden, habe eine Hütte in den Bergen gemietet und bin ohne Computer und ohne Bücher dorthin gefahren, um alleine eine Woche Zen-Klausur zu machen.

Es war das spannendste, was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe.  Ich hatte keinerlei Vorgaben, keine Tagesstruktur und so war ich fast ein bisschen aufgeregt, was passieren würde.

Die Struktur kam ganz von alleine. Es war Meditieren, Frühstück, Körperübungen, Schauen, in die Natur gehen, Essen, Meditieren, Schauen, Essen, Meditieren, Schlafen.  Es entwickelte sich ein Gefühl des Bei-mir-Seins, des Im-Moment-Seins, einer tiefen inneren Stille, die durchwegs Meditation war.

Und das waren die Aha-Erlebnisse:

Ein Leben ohne Entscheidungen. Unser Alltagsleben ist so schwierig, denn wir müssen dauernd Entscheidungen treffen. Nehmen wir eine Melange oder einen Cappuccino? Kaufe ich das billigere Waschmittel oder das teurere Öko-Waschmittel? Fahre ich mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder fahre ich mit der U-Bahn? Je komplizierter unser Leben ist, desto mehr Entscheidungen müssen wir treffen. Am Berg nehme ich was da ist, punktum.

Die Essensbedürfnisse ändern sich. Ohne Einflüsse von aussen wie Fernsehen, Werbung, das Angebot im Supermarkt, verändern sich die Essensbedürfnisse. Ich habe nur ganz simple Dinge zum Essen gekocht und weniger gegessen. Ich hatte Orangensaft und Mineralwasser mitgebracht, aber nicht angerührt. Ich hatte grünen und schwarzen Tee mitgenommen, aber nur heisses Wasser und Kräutertee getrunken.

Das Leben entwickelt sich von innen. Im Alltag leben wir von aussen bestimmt. Von Terminen, Vorgaben im Beruf, von den Bedürfnissen des Partners, von Informationen aus Zeitungen, Werbung, Fernsehen. Selbst wenn wir ein Buch lesen, nehmen wir etwas von aussen auf. Eine Woche lang nichts aufnehmen, und wir gewinnen völlig neue Erkenntnisse über uns selbst. Die leise Stimme, die von innen kommt, hat eine Chance, unsere Augen öffnen sich und nehmen wahr.

Unsere Umgebung wird wirklich. Ohne Impulse von aussen werden wir nicht abgelenkt. Ich gehe in die Natur und kann mich mit ihr einschwingen. Keine störenden Gedanken sind da, die eine Wand zur Umgebung aufbauen. Ich sehe mehr, ich freue mich an kleinen und großen Dingen, an Fliegenpilzen und an der Milchstrasse in der Nacht.

Jetzt bleibt noch das Rätsel: Warum gerade am Berg? Es ist ganz einfach. Da sind wir weit weg von der Zivilisation. Es ist still. Keine Stimmen, keine Autos. Und selbst wenn ich in Versuchung kommen sollte, in ein Kaffeehaus zu gehen, ist das nicht so einfach,  da bleibe ich lieber oben. Am Berg bin ich wirklich alleine.

Zen in der lauten Welt

Zen-Praxis braucht vordergründig Stille. Die Stille und der geordnete Ablauf in Zen-Klöstern und in intensiven Übungsperioden (Sesshin – 1 Woche, Kessei – 3 Monate) ) sind der ideale Nährboden, um die eigene  Zen-Übung zu vertiefen. Intensive Zen-Praxis über viele Stunden sind eine besondere Erfahrung und ein Geschenk. Nur: wer will sein ganzes Leben im Kloster verbringen? Oder im Permanent-Sesshin?

Nach den Übungsperioden kehren wir in die Welt zurück.  Manches Mal empfinden wir den Bruch sehr stark, nach einer Woche stiller Zen-Übung wieder in die lauten Bahnhofshallen und ins Bürotreiben zurückzukehren.

Auch im Alltag meditieren wir täglich, oft am Morgen. Und dann beginnt der Wahnsinn, auf den Strassen und in den U-Bahnen, in den Meetingräumen und in den Supermärkten. Die innere Stille bleibt zwar in gewisser Weise, aber oft fürchten wir sie zu verlieren. Die Welt nimmt uns gefangen, und es erscheint uns schwer immer wieder, jeden Tag in die Stille zurückzukehren.

Ta-Hui (1089-1163)

Der chinesische Zen-Meister Ta-Hui (jap. Daiei,1089-1163) hat schon vor beinahe 1000 Jahren über diese Problematik nachgedacht. Er schreibt an einen seiner Schüler, einen Laien, der mitten im Business-Leben steht: „Gerade wenn Du Ruhe magst und das tägliche Gehetze verabscheust, solltest Du mit aller Kraft üben. Denn wenn die Kraft, die Du in der Stille erreicht hast, frontal auf die tägliche Hektik trifft, wird die Wirkung, die Du erreichst viel stärker sein.“

Es ist eine besondere Herausforderung in dieser lauten Welt die innere Stille und Mitte zu bewahren. Doch gerade im täglichen Stress bewährt sich die Zen-Praxis. Strahlen wir selbst Kraft und Stille aus, dann praktizieren wir Zen nicht nur für uns selber, sondern auch für andere Menschen.