Ausmisten: Abschied von der Last des Zuviel

Wir misten aus. Radikal. Vieles was sich im Laufe eines langen Lebens angehäuft hat, hatte ich schon jahrelang nicht in der Hand gehabt.

Bücher, die ich in meiner Studienzeit gelesen hatte, Bücher, die mir irgendwann interessant erschienen waren und die noch meiner harren. Wenn ich die Buchrücken ansah, schaute mein schlechtes Gewissen zurück: „Das sollte ich doch endlich mal lesen!“. Ein gefrorenes schlechtes Gewissen neben dem anderen, aufgehoben für die Zeit, in der ich sie endlich, vielleicht, eventuell, möglicherweise… brauchen könnte.

Jetzt ist es an der Zeit, reinen Tisch zu machen. Dafür gibt es einen rationalen Grund und einen emotionalen Grund.

Rational: Zu groß

Unser Haus war groß genug für eine Familie mit drei Kindern. Jetzt sind es drei Zimmer zu viel. Sie wurden zu Abstellkammern, in denen sich der Staub auf ungenutzten Möbel sammelte. Nun ist es an der Zeit, in ein kleineres Haus zu ziehen oder ein Stockwerk aufzugeben zur Benützung für jemanden anderen.

Emotional: Die Last der Generationen

Der emotionale Grund sitzt tiefer. Meine Eltern hatten bis zu ihrem Tod immer aufgebaut, als ob das Leben ewig weiterginge. Sie kauften und verbesserten und kauften und renovierten, immer den Blick in die Zukunft gerichtet. Bis zu ihrem Tod vermehrten sie Schönes und hofften, nicht nur ein Erbe, sondern ein Vermächtnis zu hinterlassen. Als sie gingen, lebten sie in ihren Dingen weiter. Diese belasteten mich, vor allem emotional, viele Jahre lang. Wenn ich etwas weggeben wollte, quälte mich die Frage: „Darf ich das? Was hätte meine Mutter dazu gesagt?“ Und so lebe ich noch heute zwischen unentschiedenen Erbstücken.

Das will ich unseren Söhnen nicht zumuten. Es ist meine Verantwortung, der nächsten Generation nur jenes zu hinterlassen, was sie will. Deswegen muss ich jetzt die Entscheidung treffen, was ich noch brauche und was wert ist, aufgehoben zu werden. Wenn ich einmal sterbe, sollen die Dinge mit mir gehen, ganz nach dem Zen-Ideal des mushotoku. Mushotoku bedeutet, keine Spuren zu hinterlassen, so wie sich das Wasser hinter einem Fisch wieder schließt. Das Erbe, das ich hinterlasse, wird nicht materiell sein.

Und so gingen wir das Ausmisten an. Mit Hilfe unserer Söhne – Dankeschön!!! –  räumten wir zuallererst den Dachboden aus. Nach und nach durchstöbern wir nun jede Ecke unseres Hauses: Jeder Krug, jeder Teller, jede Vase, jeder Walkman wird in die Hand genommen und bewertet. Ist er wichtig für mein jetziges Leben? Hat er Wert für die zukünftige Generation? Kann ihn jemand anderer gebrauchen?

Wir stellten alles in Regale und luden einige Freunde zu einem Mini-Flohmarkt ein. Manche Sachen fanden eine neue Heimat, viele auch nicht. Wir ließen sie im Regal stehen.

Nun geschieht etwas Interessantes. Jeden Tag gehen wir an diesen Regalen vorbei und die Kerzenhalter, Schellack-Platten und Sportgeräte scheinen zu uns zu sprechen. Irgendwann habe ich sie gekauft, denn sie hatten mir gefallen. Es sind schöne Dinge. Ich merke, wie sich mein Blick verändert und ich sie mit einem weicheren, liebevollen Blick ansehe. Eine Beziehung entwickelt sich. Also denke ich nach, wie ich sie in einer anderen Weise verwenden kann. So habe ich den alten Hydrokultur-Topf umgestülpt auf die Terrasse gestellt, damit die Sonnenstrahlen meine Fuchsie erreichen. Das medizinische Fachbuch aus meiner Shiatsu-Zeit legte ich einem befreundeten Arzt in die Hände.

Viele Jahre waren hunderte Gegenstände „tot“ in einer Ecke gelegen. Nun wecke ich sie auf und schenke ihnen ihre Seele wieder. Ich habe ihren Wert nochmals schätzen gelernt und mich von ihnen verabschiedet. Ein gutes Gefühl.

16 Kommentare zu “Ausmisten: Abschied von der Last des Zuviel

  1. Ein schöner Artikel, den ich nun noch einmal gelesen habe.. Ihr könnt Stolz sein wie konsequent und bedacht ihr das Ausmisten vorgenommen habt und noch immer tut.

    Ab und zu bereut man im Nachhinein dass man „Nein“ zu manchen Dingen gesagt hat, doch so ist das Leben, ein stetes kommen und gehen.. 🙂
    Grüße aus Tokyo

  2. Ausmisten mit Kindern geht super – da hat uns unsere Tochter gerade sehr geholfen- der Schlachtruf war „Müll,Müll,Müll !!! “ nicht immer ganz wörtlich gemeint, aber immer ein Verabschiedungsruf für die Dinge- ich stellte fest wie erleichternd es ist z.B. den Porzellan Melitta Filter von Oma abzugeben ,wenn man Erlaubnis hat von der potentiellen Erbin ,der ihr nichts bedeutet. Alle Tagebücher zu entsorgen fiel mir schon schwerer, v.a. danach kam immer mal Reue auf im Bauch und gleichzeitig Frohsinn im Kopf…“Weg!-geschafft!“ – Die Leere ist befreiend.

    • Die nächste Generation öffnet unseren Blick, das ist mir auch so gegangen. Ich bot einem meiner Söhne ein ererbtes Möbelstück für seine Wohnung an. Es war vom Tischler gefertigt und ich hatte noch die Stimme meiner Mutter im Ohr „So teuer, so wertvoll“! Der Sohn sagte: „Das brauche ich nicht, das ist nicht mein Stil“. Damit war das Ganze abgehakt. Mir führte dieser Satz vor Augen, wie uns die Stimmen unserer Ahnen noch immer beeinflussen. Der klare junge Blick tut gut.

  3. Was für ein wunderbarer Artikel!

    Meine Mutter, die nie Zen oder Ähnliches praktiziert hat, hat es genauso gemacht.
    Vor Jahren begann sie damit, ihre kleine Wohnung auszumisten. Ich habe das seinerzeit zunächst nicht verstanden. Heute verstehe ich es vollkommen.

    Mit 88 1/2 Jahren gab sie ihre Wohnung auf und zog selbst bestimmt in ein Heim für Alte. Mit diesem Umzug reduzierte sich alles Materielle auf das noch Wesentlichere, in dem Maße, wie sich ihr körperlicher und geistige Radius reduzierte. Auch dies war zunächst schwer für mich und ich habe mich gefragt, für wen dies eigentlich schwer ist.

    Das Loslassen dieser Art konfrontiert uns unmittelbar mit unserer Vergänglichkeit, letztlich mit dem eigenen Tod. Das ist es, was es schwer macht.

    In ihren letzten sieben Monaten reduzierte sich alles mehr und mehr. Hier ging es um das allerletzte Ausmisten und das Loslassen voneinander und schließlich von sich selbst. Ich durfte dies intensiv begleiten. In ihrer letzten Stunde wurden wir ganz still.

    Augenblick für Augenblick für Augenblick. Nicht mehr – nicht weniger.

    • Wie ungemein berührend – und was für ein Vorbild für uns alle. Loslassen, was nicht mehr nützlich ist, dessen Zeit vorüber ist. Nicht festkrallen an Vergangenem – sondern Raum schaffen für das Leben, so wie es jetzt gerade ist. Das Schwerste überhaupt – keine Angst vor dem Verlust zu haben und den Blick offen zu haben für die jetztigen Anforderungen. Das ist wohl das, was man sich vorstellt, wenn man vom Fließen mit dem Fluss des Lebens spricht. Ich arbeite ehrenamtlich im Hospizverein – es gibt wenige, die dem Prozess des Lebens so vertrauen und loslassen.
      Die Geschichte wird mich heute begleiten- vielen Dank Michael. Augenblick für Augenblick,
      Anja

  4. Es ist immer wieder schön, wenn die emotionale Energie (positiv wie negativ) die wir scheinbar in den Dingen speichern, wieder „frei“ wird…

    • Stimmt. Ich möchte wissen, wie viele tausende Dinge ein Haushalt heute im Durchschnitt besitzt. Wie viele Dinge jedes Jahr dazukommen und wie wenige weg. Ich habe von einem Immobilienhändler in den USA folgendes gelesen. Als die Immobilienblase platzte, mussten viele Amerikaner in ein kleineres Haus umziehen. Die Möbel und Sachen, die dort keinen Platz fanden, kamen in ein gemietetes Lager (Selfstorage o.ä.). Einige Jahre später ging es wirtschaftlich besser und sie kauften wieder ein größeres Haus. Das war in kurzer Zeit wieder voll, das Lager mit den Dingen vom früheren Haus blieb weiterhin bestehen. Erst die Erben müssen all das auflösen. So wird dann wenn geerbt wird, sicher vieles weggeworfen, was man mit ein paar Gedanken auch jemandem schenken hätte können. Es trägt also vermutlich auch zur Nachhaltigkeit bei, immer wieder auszumisten.

  5. das bild vom mushotoku gefällt mir sehr. eine schöne vorstellung. auch ich habe den effekt kennengelernt, dass nach dem ausmisten, wenn die dinge auf den transport ins umsonstregal (eine feine sache bei uns in der uni-mensa mit regem kommen und gehen) warteten, sie nochmal eine neue wichtigkeit bekamen und eventuell einen neuen verwendungszweck. und das alles was bleiben durfte/darf (jedes ding seinen festen platz) mit neuer, fast zärtlicher wertschätzung behandelt wird.

      • sehr gern. das regal steht hier bei uns an der techischen universität ilmenau in der mensa des studentenwerks in einer eher ruhigen hellen ecke. darüber hinaus gibt es zweimal im jahr ein umsonstfest (immer dann wenn neue studenten kommen, die ja vieles brauchen können), wo man dinge und fähigkeiten anbieten kann. inzwischen gibt es auch in der leihbibo die möglichkeit, alte bücher mit aus zulegen. sie sind innerhalb weniger tage ‚weg‘. und zuguterletzt haben wir noch auf einem privatgrundstück ein umsonsthäuschen für lebensmittel. dort gibt es regale und einen kühl/gefrierschrank, wo man sich essen holen oder ein zuviel loswerden kann.
        all dies verdanken wir übrigens intial den menschen der initiative solidarische welt (iswi e.v) einem netzwerk, dass hier internationale studententreffen organisiert und noch viel mehr. deshalb soll es nicht unerwähnt bleiben 🙂

  6. Starte gerade auch mit dem Ausmisten, wird noch lange dauern und soll durch alle Bereiche gehen.
    Habe dies schon vor 10 Jahren auch schon gemacht und weiß, wie befreiend dies letztlich ist.
    Danke für den schönen Artikel!

Was denkst Du darüber?